Der Spion der Zeit
Lucas hatte immer gesagt, er möge ihn, er denke dabei immer an seinen Vater. Er war zwölf, als sein Vater ihn zum ersten Mal mit in die Gerichtsmedizin genommen hatte. Seit seinem neunten Lebensjahr hatte Lucas ihn immer wieder bekniet. Er wollte diese Unterseewelt unbedingt kennenlernen, aus der sein Vater stets feucht und erschöpft am Abend auftauchte.
Am Ende hatte Carranza sich dem Willen des Jungen gebeugt. Er ging davon aus, durch die direkte Anschauung wäre der Tod nicht länger geheimnisvoll und furchterregend. Als Lucas Carranza sich frei auf den Fluren der Gerichtsmedizin bewegen konnte, begriff er, dass der Tod einfach so geschah. Er war kein Unfall und auch kein Werk des Zufalls, er war die krönende Endstufe einer logischen Abfolge.
Damals war Carranza stolz auf seinen Sohn gewesen. Heute fragte er sich, ob es nicht besser gewesen wäre, ihn in der Furcht vor dem Tod aufwachsen zu lassen.
»Was meinen Sie?«, fragte D.
Carranza beugte sich über Prades’ Leiche.
»Er litt an einer Lebererkrankung im Endstadium«, sagte D und tastete mit beiden Händen ein bläuliches Stück Fleisch ab. »Wäre unser General nicht auf diese Weise zu Tode gekommen, hätte es ihn in ein paar Wochen ohnehin erwischt.«
Fast beleidigt schob Carranza seine Hände in den Bauch der Leiche. Er tastete die Umgebung und zuletzt auch die Leber selbst ab. Sie war dabei, sich aufzulösen. Carranza blickte auf seine Handschuhe. Leberfetzen klebten zwischen seinen Fingern. Er zitterte. Er ballte die Hände zur Faust. Doch er bekam das Zittern nicht unter Kontrolle.
Van Upp beobachtete ihn von draußen durch das Bullauge.
»Alles in Ordnung?«, wollte D wissen.
»Ruhe!«
»Ich wollte nur …«
»Ich brauche absolute Ruhe«, sagte Carranza.
Er beugte sich zu Prades hinunter, bis er ihn fast berührte, und streifte die Handschuhe ab. Es sah aus, als wartete er darauf, sein Herz schlagen zu hören. Die Praktikanten sahen sich an. Einer von ihnen erschrak; er glaubte, tatsächlich einen Herzschlag vernommen zu haben, aber dann wurde ihm klar, dass es sein eigener war.
Von der Straße hörte man Sirenengeheul.
Carranza legte die bloße Hand in Rippenhöhe auf Prades’ Seite. Er ließ sie langsam nach unten gleiten, fast so als würde er ihn streicheln, über den harten Leib, die Hüften, an dem schlaffen dunklen Penis vorbei; auf der Außenseite der Schenkel hielt er inne. Man hörte nur den Atem von Carranza. Dann drückte er mit den Fingerspitzen zu, als wollte er Prades aufwecken.
Er drückte noch einmal. Da war es wieder.
Das Geräusch von verkohltem Papier, das zwischen den Fingern zerbröselt.
XVI
Eine typische Eigenschaft Van Upps war sein Hang zur Ordnung. Es brauchte nicht viel, um das festzustellen, man sah es ihm regelrecht an: die immer tadellose Kleidung, seine zurückhaltende Gestik, der stets angemessene Umgangston.
Diese Zurückhaltung stand in einem merkwürdigen Missverhältnis zu dem, was man von einem Hünen von seiner überdimensionierten Gestalt üblicherweise erwartete. Doch Van Upp war alles andere als schwerfällig. Jemand hatte einmal zu ihm gesagt – er erinnerte sich nicht mehr, wer oder wann das gewesen war, nur noch an den Satz: Er sei ein Vulkan in einem Zelt.
Doch niemand würde Van Upp jemals mit seiner Wohnung in Zusammenhang bringen, höchstens wegen der vielen Bücher. Die kleine Dachwohnung in dem vierstöckigen Haus sah meistens so aus, als wäre ein Sturm darüber hinweggefegt. An einigen Stellen löste sich wegen der hohen Luftfeuchtigkeit, die Van Upp so schätzte, die Tapete von der Wand. (Ein ähnlicher Luftbefeuchter wie im Büro war ständig in Betrieb.) Die Pflanzen wuchsen wie wild, ohne dass irgendeine Art von Beschnitt das üppige Gewucher im Zaum hielt. Die Bücher füllten nicht nur die Regale: Sie lagen stapelweise überall in den Räumen verteilt. Genauso verhielt es sich mit den Kleidungsstücken; er ließ sie einfach dort fallen, wo er sie ausgezogen hatte.
In der Küche war es nicht anders. Van Upp benutzte eine Teetasse nie zweimal, er nahm immer wieder eine neue, so viele, wie er brauchte, um seinen Durst zu stillen. Zum Glück hatte er Teresa, die täglich gegen die Folgen seiner schlechten Gewohnheiten ankämpfte. Teresa, die aus dem Baskenland stammte, war diskret, wortkarg und energisch: der einzige Mensch, dem Van Upp gezwungenermaßen Zutritt zu seinem Reich gewährte.
Er schaltete eine Tischlampe an (ein schwaches Licht; das reichte völlig), fegte
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