Der Spion der Zeit
Mann. Vor ein paar Tagen. Er hat sich hier mit einem Anwalt oder Notar getroffen, einem gewissen Solamas oder Solana. Sie sprachen über den Henker Moliner und davon, etwas zu Ende zu bringen. Bis zur letzten Konsequenz.«
»Ein Mann?«
»Sehr gebildet, obwohl er gewöhnliche Seemannskluft trug. Sein eines Bein war kürzer als das andere.«
»Ich will alles darüber wissen«, sagte Dumont, völlig verwandelt.
»Moment mal«, sagte Nadal, der die Aussage von der Tür aus mitbekommen hatte. »Warum erzählen Sie uns das? Warum jetzt?«
Ciro Chomón lächelte. Er hatte die Situation wieder unter Kontrolle.
»Krüppel sind hinterhältig. Haben Sie das noch nicht gehört?«, sagte er und nahm Nadals Geldschein an sich. »Und von allem, was da unter den Menschen so kreucht und fleucht, verachten wir nichts so sehr und mit solcher Leidenschaft wie einen anderen Krüppel.«
XIII
Als Nora Kind war, hatten beide Eltern geraucht. Später hatte ihr Vater aufgehört, so gründlich, wie er alles erledigte, was er sich vornahm, ohne jemals wieder rückfällig zu werden oder auch nur heimlich einen Zug zu nehmen. Ihre Mutter hingegen rauchte weiter. Sie verbrachte die Tage zu Hause, rauchte, löste Kreuzworträtsel, lernte Italienisch, wusch lustlos die Wäsche, bestellte Essen per Lieferservice oder bekniete ihren Mann, auszugehen. Sie gingen so gut wie nie aus. Ihr Vater kam meist sehr spät nach Hause, oder er sagte, er habe unterwegs schon eine Kleinigkeit gegessen.
Als Nora die Nachricht erhielt, dass ihre Mutter an Krebs erkrankt war, hielt sie das für einen schlechten Scherz. Sie glaubte noch, ihre Mutter würde wie immer ans Telefon gehen, sie mit »ciao, cara« begrüßen, ihr erzählen, sie denke ernsthaft darüber nach, Deutsch zu lernen, sie bitten, ihren Vater zu überreden, am Sonntag mit ihr ins Restaurant zu gehen, und sie fragen, ob sie auch ja auf sich achtgäbe (nicht bei der Arbeit, sondern was das angehe).
Ihre Mutter wurde keine fünfzig Jahre alt. Innerhalb von zwei Monaten war alles vorbei: Sie verlor ihr Haar, man schob sie in den OP und wieder hinaus (es war nichts mehr zu machen, man nähte sie gleich wieder zu), sie sah aus wie siebzig und starb in einem Krankenhausbett. Immer, wenn sie offen sagte, dass ihre Mutter an Lungenkrebs gestorben war, kam die unvermeidliche Frage: Hat sie geraucht? Klar hat sie geraucht. Aber was zum Teufel hatte das damit zu tun?
Nora steckte die Zigarette in den Mund. Ob blonder oder schwarzer Tabak, einheimische oder Importzigaretten, für sie schmeckten alle gleich.
Es war nicht ungefährlich, aber angenehm, nachts durch die Straßen von Luro zu spazieren. Die Luft war immer frisch. Hin und wieder wehte einem der Wind stoßweise ranzige, beißende, süßliche und giftige Gerüche zu. Niemand würde sie belästigen, solange sie niemanden belästigte. Eine Frau, die um diese Zeit auf der Straße unterwegs war, konnte nur eine Prostituierte sein – teuer und folglich unerschwinglich für die Bewohner – oder Polizistin.
In einem Hauseingang lag eine benutzte Spritze. Nora ging weiter.
Die Mechanismen der Sucht gaben ihr Rätsel auf. Nikotin, Kokain und harten Drogen konnte sie nichts abgewinnen. Form- und fristgerecht hatte sie ihren Teil konsumiert und genügend über die chemische Abhängigkeit gelesen, die sie erzeugten. Merkwürdigerweise war sie von allem leicht wieder losgekommen. Sie trank lieber, aber auch das nur kontrolliert, denn sie wusste, wenn sie übertrieb, ginge es ihr schlecht; sie müsste sich übergeben und würde ihre (vorübergehende) Unvernunft verfluchen. In dieser Hinsicht war sie frei. Niemals hatte sie das unbezwingbare Bedürfnis verspürt, zu rauchen oder zu trinken. Sie kannte den Zwang bei anderen, aber an sich selbst hatte sie so etwas nie festgestellt.
Beim Stichwort »Sucht« dachte Nora an andere Dinge. An die Jahre, die sie auf Beziehungen verschwendet hatte, die nur Schmerz verursachten, in denen man sie mit Schweigen, Sex und Verachtung strafte, so dass sie sich kaum mehr auf etwas anderes konzentrieren konnte, selbst wenn ihr die Kugeln um die Ohren pfiffen. An die ständige Suche nach Bestätigung durch die falsche Person – sie mochte auf ihrem Gebiet hervorragend sein, aber, lieber Gott, sie war immer noch eine Frau. An die Menschen, die ihr Leben mit Einsamkeit, Zigaretten, Kreuzworträtseln und Sprachkursen zubrachten, nie die Stimme erhoben und plötzlich wie vom Blitz getroffen dahingerafft wurden.
Sie fragte
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