Der Spion der Zeit
sich, welche Art von chemischem Ungleichgewicht Angst hervorrief. Sicherlich gab es da eine Substanz mit kompliziertem Namen – so etwas wie Adrenalin oder Serotonin. Sobald sie die ausgemacht hätte, fände sich auch eine Bezeichnung für ihre Sucht.
»Frau Duarte?«
Nora erschrak und hasste sich dafür, und dann erschrak sie wieder. Nicht ein Verrückter oder Junkie oder einer von diesen Finsterlingen, die auf den Straßen des Viertels ihre Sachen verticken, hatte sie angesprochen. Es war weit schlimmer, und sie wusste nicht, ob sie damit umgehen konnte. Es war Benet.
»Für Sie immer noch Sergeant«, sagte Nora und zündete mit zittriger Hand die Zigarette an. »Ich habe denselben Dienstgrad wie Sie. Was machen Sie hier, um diese Zeit?«
»Ich habe Sie gesucht.« Er versuchte zu lächeln. »Wo ist Van Upp?«
»Er muss in der Gerichtsmedizin sein. Fragen Sie dort nach. Ich bin nicht seine Sekretärin.«
Benet hob hilflos die Arme. Worte brachten ihn immer in die Bredouille. Natürlich wollte er wissen, was Van Upp gerade trieb, aber eigentlich suchte er nicht ihn, sondern sie. Er brauchte sie.
»Stimmt es, dass Van Upp einen Militär oder jemanden von der Polizei in Verdacht hat?«, fragte Benet und wedelte mit ein paar Papieren herum.
»Als Ermittler sind Sie eine Fehlbesetzung«, sagte Nora. »In diesem Land geht die Mehrzahl der Verbrechen auf das Konto von Militärs oder Polizisten oder von Exmilitärs und Expolizisten. Was wäre in diesem Fall daran so überraschend?«
»Sie sind doch auch Polizistin«, sagte Benet verwirrt.
»Wir Polizisten sind alle der letzte Dreck. Aber wir sind nicht alle Mörder.«
Benet fielen die Papiere aus der Hand. Im Schein des Lichtes konnte Nora erkennen, dass einige den Briefkopf der Abteilung Interne Angelegenheiten trugen. Sie bückte sich, um sie aufzuheben. Zu ihrer Überraschung ließ Benet sie gewähren. Von unten betrachtet und im Licht der Laterne wirkte Benets Gestalt riesig und primitiv.
»Sie verachten mich«, sagte Benet ungerührt. Es war kein Vorwurf, sondern eine Feststellung. »Aber Van Upp ist genauso wie ich. Das sollten Sie wissen«, sagte er und deutete auf die verstreuten Papiere.
Er drehte sich auf dem Absatz um und zog von dannen. An der nächsten Ecke war er verschwunden.
XIV
Der Beamte F stammte nicht aus Trinidad. Er hatte die Staatsbürgerschaft angenommen, um in den Polizeidienst eintreten zu können. Die einzige Berufsmöglichkeit, die sich ihm bot, als er auf eigenen Füßen stehen wollte. Man kam nicht mit allzu vielen Fragen daher und verlangte keine besondere Qualifikation. Ein paar Monate lang saß er auf der Lehrbank, er leistete den Eid, dann drückte man ihm eine Waffe und eine Uniform in die Hand und schickte ihn auf die Straße.
Mit dreizehn Jahren war F an der Hand seines Vaters nach Trinidad gekommen. Bis dahin hatte er das Leben eines Nomaden geführt. Sein Vater arbeitete für die Euro-Bombay-Gesellschaft mit Hauptsitzen in Rom und Madras, im Im- und Export. Alle zwei Jahre waren sie innerhalb Lateinamerikas in ein anderes Land umgezogen: Kolumbien, Ecuador, Peru, Uruguay und andere. An kein Land konnte er sich sonderlich erinnern; vor Trinidad war alles ein einziger großer Fleck. Sein Vater, ein wortkarger, rauer Mann, ging nie ohne seine Browning zur Arbeit. Lange Zeit hatte F gedacht, eine Waffe zu tragen sei das Vorrecht der Händler.
Als der Skandal mit der örtlichen Niederlassung der Euro-Bombay ausbrach, lebten sie schon in Trinidad. An Einzelheiten konnte F sich nicht mehr erinnern, er war damals noch zu jung: Es ging um Schmuggel, zumindest waren irgendwelche gesetzlichen Vorschriften nicht eingehalten worden. Damals war die Euro-Bombay pausenlos in den Schlagzeilen, und alle Zeitungen waren voll mit Bildern der Anwälte auf der Treppe vor dem Gericht und mit Anspielungen auf die »Schwarze Legende« der Gesellschaft. F erinnerte sich noch, wie ihn der Ausdruck überrascht hatte, denn bis dahin hatte er geglaubt, es gäbe nur goldene Legenden.
Der Brand im Hafen war der Anfang vom Ende. Es handelte sich um ein Lager der Gesellschaft. Es gab Tote. Kurz darauf beschloss die Euro-Bombay, ihre Niederlassung in Trinidad zu schließen. Einem der örtlichen Manager wurde der Prozess gemacht, und er wurde der fahrlässigen Tötung sowie weiterer Anklagepunkte für schuldig befunden; auch daran konnte F sich nicht mehr genau erinnern, nur dass sie genauso schmutzig geklungen hatten wie die Schwarze Legende.
Sein
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