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Der Spion der Zeit

Der Spion der Zeit

Titel: Der Spion der Zeit Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Marcelo Figueras
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Vater hatte darauf gewartet, dass man ihn an eine andere Niederlassung beorderte. Eine solche Anordnung kam nie. Kurz darauf stellte man einen Diabetes bei ihm fest, der nicht richtig behandelt wurde, und er verlor sein Augenlicht. F suchte eine Arbeit, um die Arztrechnungen bezahlen zu können.
    Schritte rissen ihn aus seinen Gedanken. Der Henker Moliner spazierte durch den Garten. F schaute auf seine Uhr. Es war früher Morgen.
    »Schönen guten Abend«, sagte er.
    Moliner hob die Hand. Die stumme Geste war nicht als Gruß gedacht. Es war ein Wiedererkennen, das Zeichen, dass er wieder zu sich gekommen und sich bewusst geworden war, dass er, verfolgt und zugleich bewacht, in Gefahr schwebte.
    Moliner ging ins Haus zurück. Plötzlich blieb er stehen; F beobachtete, wie er gen Himmel schaute. Es sah aus, als ob er das Gesicht in den Wind hielt und die in der Nacht schwebenden Gerüche aufsog.
    F war während des Prätorianerregimes Polizist geworden. Da er gerade erst in den Dienst eingetreten war, hatte er sich über nichts sonderlich gewundert. Er tat, was man von ihm verlangte, und ging dorthin, wohin man ihn schickte. Niemals hinterfragte er einen Befehl; er war es gewohnt, bei der Arbeit eine Waffe zu tragen und sich den Gegebenheiten anzupassen.
    Als das Prätorianerregime fiel, überkam ihn eine vage Angst. Er fürchtete, ihm könne dasselbe passieren wie seinem Vater: der Skandal, die Schlagzeilen, Gerichtsfotos, Arbeitslosigkeit, Blindheit. Aber nichts dergleichen geschah. Oder fast nichts. Es gab einen Skandal, Schlag zeilen und ein Verfahren, aber das war’s auch schon. Er musste nicht einmal aussagen, obwohl er bei einigen Einsätzen dabei gewesen war, die ihn in seinen Träumen immer noch derart umtrieben, dass seine Angstschreie seinem blinden Vater den Schlaf raubten.
    »Ganz schön kalt heute Nacht, schweinekalt, Herr Wachtmeister, nicht wahr?«, sagte die Stimme.
    Es war ein Mann in Seemannskleidung. Er wirkte betrunken. Er trug solch derbe Quadratlatschen (ein Schuh war größer als der andere), dass F sich fragte, wie er bis dorthin gekommen war, ohne dass er Schritte auf dem Pflaster gehört hatte.
    »Und windig, mein lieber Mann, Herr Wachtmeister. Ich weiß nicht, liegt es an mir oder an den vielen Jahren auf See … verzeihen Sie, ich hab zu tief ins Glas geschaut … aber immer, wenn ich in dieses Land komme, befällt mich dasselbe Gefühl. Passen Sie bloß auf«, sagte er und hob die Arme in die Höhe, als wollte er gleich abheben. »Haben Sie nicht das Gefühl, dass dieses Land … untergeht?«
    »Sie sollten besser nach Hause gehen. Oder in Ihr Hotel. Oder auf Ihr Schiff. Das ist keine Uhrzeit, um …«
    »Es ist wie ein Sumpf. Bodenlos. Ohne Halt.«
    F ging auf den Betrunkenen zu. Aber der mied seine Nähe.
    »Verzeihung, Herr … Wachtmeister«, sagte er und wich in seinen riesigen Galoschen zurück.
    »Ich geh nach Hause. Machen Sie sich keine Umstände, Sie haben genug Arbeit. Ist das nicht Wahnsinn? Ich meine, die Sicherheit der Bürger in die Hände so schlecht bezahlter Angestellter zu legen. Ich halte Sie nicht länger auf, Herr Wachtmeister. Ich wünsche Ihnen eine wunderbare Nacht.«
    Er machte eine ungeschickte Verbeugung und verschwand in der Dunkelheit.
    F konnte seine Schritte noch hören, als er schon längst nicht mehr in Sichtweite war. Es klang, als würde ein alter Gaul seine Hufe übers Pflaster ziehen.
    XV
    Carranza überließ es einem anderen, den Körper aufzuschneiden. Es war ein gnädiges Zugeständnis: Er wusste, dass sein Assistent D darauf brannte, die Autopsie zu übernehmen.
    D war von dieser Großzügigkeit überrascht. Als er den Schnitt ausgeführt hatte (besser gesagt, ihn vollendet hatte, der Mörder hatte ja den größten Teil der Arbeit bereits selbst erledigt), sah D Carranza an, als bäte er um die Erlaubnis, nun auch den Thorax öffnen zu dürfen.
    Mit einer Handbewegung bedeutete Carranza ihm, er solle weitermachen.
    D trat einen Schritt zur Seite, damit der Praktikant das Skalpell auf Höhe des Herzens ansetzen konnte.
    Carranza atmete tief ein. Es fiel ihm schwer, sich zu konzentrieren. Vielleicht kam das vom Ammoniak; Prades’ Körper stank verheerend – und das, obwohl der Todeszeitpunkt noch nicht so lang zurücklag –, und D hatte es mit dem Desinfektionsmittel übertrieben. Carranza lächelte unter dem Mundschutz. Ammoniakunverträglichkeit? Er wurde langsam alt.
    Der Ammoniakgeruch hatte seinen Sohn Lucas nie gestört. Ganz im Gegenteil,

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