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Der Spion der Zeit

Der Spion der Zeit

Titel: Der Spion der Zeit Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Marcelo Figueras
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die Bücher vom Sessel auf den Boden und ließ sich auf die Kissen fallen. Jetzt brauchte er nur eins: Ordnung. Er musste dem Strudel der Gedanken Einhalt gebieten. Sie sortieren, die Spreu vom Weizen trennen. Er hob die Bibel, in der er gelesen hatte, vom Teppich auf.
    Der Mörder hatte Prades den Leib aufgeschlitzt und ihn sterben lassen. Langsam. Mit der Gewissheit, dass der brennende Durst ihn zwingen würde, sein eigenes Blut, den Saft seiner Eingeweide zu trinken.
    Er erinnerte sich an die Worte des alten Hausmeisters aus dem Landhaus: »Ich hörte Geheul. Ich dachte, ein Hund sei in den Tank gefallen. Ich beschloss zu warten. Einen toten Hund bringt man leichter da raus als einen verletzten.«
    Mit Sicherheit war es ein schrecklicher Tod. Ein beispielhafter Tod.
    Seiner Überzeugung nach war der Mörder dem Muster der anderen Fälle gefolgt. Er erinnerte sich an die Worte des Theologen Quiroz: Die Mordmethoden verwiesen auf Schlüsselmomente der biblischen Erzählungen, Momente, in denen Gott eine neue Erkenntnis gewann und zu einer noch vollkommeneren Inkarnation seiner selbst fortschritt. Er fand den von Quiroz beschriebenen Gott bemerkenswert, den Gott, so wie er im Text in Erscheinung trat, und nicht das fragmentarische Bild von Gott, das man sich vom Hörensagen machte. (Der Lapsus mit dem Eselskiefer ärgerte ihn noch immer; wie groß doch der Abgrund war zwischen dem, was man vom Hörensagen kannte, und der Wahrheit.)
    Dieser im wörtlichen Sinne biblische Gott reagierte auf jeden Erkenntnisschritt mit Gewalt. Als er das Ausmaß von Kains Tat begriff, verfluchte er ihn, obwohl der Sohn von Adam und Eva ein nie ausgesprochenes Gesetz übertreten hatte. Er sandte die Sintflut, weil die Menschen nicht seinen Erwartungen entsprachen, obwohl er selbst darin äußerst wetterwendisch war. Er gab dem Menschen die Fähigkeit, sich fortzupflanzen, um dann doch eifersüchtig über dessen Schaffenskraft zu wachen und sie zu beschneiden; der Akt der Beschneidung war eine Geste des Untertanen, der dem Herrn seine Genitalien weiht und verspricht, sie nur in Seinem Sinne zu nutzen.
    Und welchem Moment der Einsicht entsprach nun Prades’ Tod? Auf der Suche nach Erleuchtung blätterte Van Upp die Seiten durch. Beim zweiten Buch Mose hielt er inne. Der Beschluss des Pharaos, die israelitischen Kinder zu töten, weckt in Gott den Wunsch, ihm die Gewalt tausendfach heimzuzahlen: Er begeht nicht nur Völkermord an den Ägyptern, sondern an allen Feinden Israels. »›Danach sprach der HERR zu Mose: Halte das zur Erinnerung in einer Urkunde fest, und präg es Josua ein! Denn ich will die Erinnerung an Amalek unter dem Himmel austilgen.‹« Das Gedenken an ein Volk auslöschen ist ein Euphemismus: Zum Krieger geworden, übernimmt Gott die Führung seiner Heere und hat keinen geringeren Wunsch, als all seine Feinde ausgelöscht zu sehen.
    Er schlug den Schluss des zweiten Buches Mose auf. »›So vollendete Mose das Werk. Dann verhüllte die Wolke das Offenbarungszelt, und die Herrlichkeit des HERRN erfüllte die Wohnstätte.‹« Welch Zufall, dachte Van Upp. Welch unglaublicher, wundersamer Zufall …
    Das Klingeln des Telefons hörte sich an wie Glockengeläut.
    »Van Upp? Dumont hier. Tut mir leid, dass ich um diese Zeit noch anrufe, aber ich denke, die Information ist die Störung wert.«
    »Ich höre.«
    »Nun ja. Van Upp? Ich glaube, wir haben unseren Mann.«
    XVII
    Der Minister ging schweigend im Büro umher. Frühe Morgensonne erhellte den Raum und machte die in der Luft schwebenden Staubpartikel sichtbar.
    »Was haben wir gegen den Kerl in der Hand?«, fragte er.
    »Nicht viel«, sagte Van Upp und rückte seine Sonnenbrille zurecht. »Er hat sich in der Nähe der Häuser der Prätorianer herumgetrieben. Erst gestern hat ein Polizist ihn in Moliners Straße gesehen, wo er den Betrunkenen gemimt hat. Es gibt Zeugen, die aussagen, er habe damit geprahlt, die Verbrechen begangen zu haben. Außerdem hat er politisch immer ein direktes Vorgehen gegen die Machthaber des Regimes gefordert. Was das angeht, können wir also nicht abstreiten, dass er perfekt ins Profil des Mörders passt.«
    »Genau das bereitet mir Sorgen«, sagte der Minister.
    Van Upp bewegte sich keinen Millimeter, aber ein rätselhaftes Lächeln zeigte sich auf seinem Gesicht.
    Der Minister nahm eine Mappe vom Schreibtisch (die Staubkörnchen wirbelten um ihn herum) und betrachtete das Foto des Lahmen, als erwartete er, dass er zu ihm spräche. Es war ein

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