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Der Spion der Zeit

Der Spion der Zeit

Titel: Der Spion der Zeit Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Marcelo Figueras
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wollte nicht von Mitleid überschwemmt werden.
    Das vierte Blatt schien irrtümlich hineingerutscht zu sein. Es handelte von einer anderen Person, die anscheinend Opfer eines Unfalls geworden war; Wunden und Krankenhausaufenthalte waren darauf verzeichnet. Der Mann hatte ein Ohr und ein Auge verloren. Abgerissene Kopfhaut. Diverse Schnitte und Schürfwunden, die ihm durch eine scharf geschliffene Metallschnalle beigebracht worden waren.
    Das letzte Blatt vervollständigte die Daten des Verwundeten. Von Beruf Krankenpfleger, war er Opfer eines grausamen Angriffs seitens eines der Insassen der psychiatrischen Anstalt geworden, in der er arbeitete.
    Der Name des Angreifers lautete Van Upp.
    V
    Moliners Frau hatte Mitleid mit ihr und bat sie herein. Die glühende Mittagssonne hatte Nora niedergestreckt: Ihr war schwindelig geworden, und sie sah Sternchen, wenn sie die Augen schloss.
    »Kaffee oder Tee?«, fragte die Frau.
    »Erst mal etwas Kaltes«, sagte Nora. »Und dann gern einen Kaffee, danke. Was ist mit Ihren Angestellten?«
    »Die wollten den Heiligen Vater sehen«, sagte die Frau und brachte ihr Limonade. »Es wäre unfair gewesen, wenn wir sie gezwungen hätten, unsere leidige Situation zu teilen.«
    Offensichtlich ging ihr das Thema nahe. Nora dachte, sie würde womöglich sogar die Gefängnisstrafe absitzen, die man ihrem Mann erlassen hatte, nur damit man sie zu Calabert ließ.
    »Und die Hunde?«
    »Offen gesagt, ich bin nicht in der Stimmung, mich um sie zu kümmern«, sagte die Frau und stellte das Glas auf die Anrichte; die Eiswürfel klirrten fröhlich. »Meine Tochter Doris hat einen mitgenommen. Und mein Neffe Marcos den anderen.«
    »Ich dachte, es wären drei.«
    »Dewey haben wir kürzlich verloren. Noch ein Unglück, das über unsere Familie hereingebrochen ist. Haben Sie schon einmal von Koma bei Tieren gehört?«
    »Nicht dass ich wüsste.«
    »Aber genau das hat der Tierarzt gesagt. Vielleicht war es nur ein vorübergehender Zustand, eine Art Narkolepsie, aber Dewey hatte ein schwaches Herz. Das haben wir bei der Gelegenheit erfahren. Laut Arzt wäre er sowieso in den nächsten Wochen gestorben.«
    »Also Dewey … Und wie heißen die anderen? Huey und …?«
    »Louie, ja.«
    Nora fing an zu lachen. Dewey, Huey und Louie, das waren die englischen Namen der Neffen von Donald Duck.
    »Welcher Ihrer Enkel hat sie so getauft?«, wollte sie wissen.
    »Oh, keiner. Das war mein Mann. Er hat einen ausgeprägten Sinn für Humor. Das glaubt uns keiner, aber es ist die reine Wahrheit. Wenn Sie mich entschuldigen, ich gehe eben in die Speisekammer und hole Kaffee«, sagte sie und verließ die Küche.
    Nora war neugierig. Sie befand sich in der Küche von Moliners Haus. Der Ort, an dem der Henker gefrühstückt hatte, bevor er Dekrete unterzeichnet und Entführungen angeordnet hatte. Sie saß vor dem Kühlschrank, den Moliner abends geöffnet hatte, nachdem er den ganzen Tag über die Informationen ausgewertet hatte, die man durch Folter, Pressekampagnen und zahllose Tote gewonnen hatte.
    Im Wandschrank befanden sich Salz, Pfeffer, Knoblauchpulver, Curry, Paprika, Kekse, Beutel mit Zitronen-Ingwer-Tee.
    Im Kühlschrank war das Angebot breiter. Fettarme Käse, Joghurts, mehrere Portionen Gemüsekuchen. (Offenbar war das die Abteilung von Moliners Frau.) Pastrami, Camembert, ein Stück rohes Fleisch und eine Flasche Schnaps. (In Moliners Abteilung.) Und Medikamente. Einer von beiden litt unter Sodbrennen.
    »Ich habe gerade im Polizeipräsidium angerufen«, sagte Moliner.
    Er lehnte mit der Zeitung in der Hand im Türrahmen, als hätte er sie die ganze Zeit beobachtet. »Niemand hat etwas von Van Upp gehört.«
    Nora machte den Kühlschrank zu. Ihre Wangen glühten.
    »Ich wollte mir noch Limonade nehmen«, sagte sie.
    Moliners Frau kam mit einem Päckchen Kaffee in der Hand zurück.
    »Ich sehe, ihr habt euch schon bekannt gemacht«, sagte sie.
    »Van Upp ist beschäftigt. Er ermittelt«, sagte Nora. Es war nicht das erste Mal, dass sie ihren Chef verteidigen musste.
    »Mit wem kann ich meine heutigen Aktivitäten besprechen?«
    »Dafür bin ich zuständig.«
    Moliner rollte die Zeitung ein. »Ich möchte nur in die Messe gehen, wie jeden Tag. Aber ich dachte, vielleicht haben Sie etwas dagegen, angesichts der besonderen Gegebenheiten …«
    Er sprach den Satz nicht zu Ende. Er wirkte abgelenkt, ganz auf das Knistern der fest eingerollten Zeitung konzentriert.
    »Das ist kein Problem, solange unsere Männer

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