Der Spion der Zeit
seine Beute wegschnappen will.
»Tun Sie was! Ich brauche Zeit«, brummte er Dumont zu. Es dauerte eine Weile, bis der junge Beamte begriff. Polizisten kamen auf die Zelle zugeeilt.
Benet packte Chiang am Revers und schüttelte ihn wie eine Puppe.
»Sie werden mir nicht entkommen! Sagen Sie was! Sagen Sie was oder …!«
Die Zellentür ging auf, und Dumont eilte hin, um die Polizisten abzuwimmeln.
Das Letzte, was er von drinnen hörte, war ein Schwall an Beleidigungen (einige im Dialekt der Bergregion) und am Ende ein dumpfes Geräusch, ein tump, das er nicht einordnen konnte. Dann hörte er nur noch die Spitzen seiner eigenen Stimme, während er versuchte, die Polizisten zu beschwichtigen und ihnen das Unerklärbare zu erklären.
III
Was in der Zelle geschehen war, von jenem Zeitpunkt an, da er sie bereits verlassen hatte, bis Benet keuchend herauskam, ein Buch in seinem Jackett verschwinden ließ und um einen Arzt bat, sollte Dumont niemals erfahren: Chiang war wieder zu Bewusstsein gekommen.
Blut spuckend (er hatte sich auf die Zunge gebissen), hatte er gestanden, die Vorfälle am Hafen gingen auf das Konto der »Gesellschaft«. Die Euro-Bombay und »die Gesellschaft« – was auch immer damit gemeint war – waren ein und dasselbe.
Es habe sich um einen Hinterhalt gehandelt. Alles sei vorbereitet gewesen. »Um ihn zu töten«, hatte er gesagt. (Das waren seine eigenen Worte gewesen.)
»Dann ist der Verräter auf den Plan getreten.« (Wieder seine Worte.)
Alles, was er bräuchte, fände er in dem Buch, das er unter der Pritsche versteckt hatte. (Es hieß Der Spion der Zeit.)
Benet hatte ihn nochmals bewusstlos geschlagen.
Während dieser Momente hatte Benet sich wieder glücklich gefühlt, erfüllt, er war wieder Benet.
IV
Nora bat darum, für die Bewachung von Moliners Haus eingeteilt zu werden. Sie mied Van Upps Nähe; sie hatte ihm immer noch nicht verziehen, dass ihn die Tragödie seines Freundes so unberührt gelassen hatte. (Typisch für den Ermittler: Bei Shakespeare liebte er die Tragödie, aber außerhalb der Bücher und der Bühne verschloss er die Augen davor.) Außerdem vermutete sie, dass sich in den kommenden Stunden das Haus des Henkers zum zentralen Schauplatz entwickeln würde. Der Mörder konnte nicht weit sein. Und es war nur noch dieser eine Prätorianer am Leben.
Nora hielt sich im Garten auf. Es war ein heißer Tag, doch sie wollte in sicherer Entfernung zum Haus bleiben. Sie war dem Henker noch nie begegnet, und wenn möglich sollte es auch dabei bleiben. Dieser Mann brachte sie an die Grenzen ihrer Professionalität. Sie konnte ihren Widerwillen überwinden, ihn bewachen und im Notfall verteidigen, solange sie ihm nicht in die Augen sehen musste. Wie sie reagieren würde, wenn sie ihn vor sich sähe, wusste sie nicht. Sie arbeitete für das Gesetz, auch wenn dieses Gesetz eine verachtenswerte und absurde Schattenseite hatte, die den Henker zwar als Völkermörder anerkannte, aber festlegte, dass er für seine Verbrechen nicht bestraft wurde. Doch könnte sie, falls es zu dieser Begegnung käme, vergessen, dass Moliner der Mörder von Lucas Carranza war? Und war er nicht in gewisser Weise auch der Mörder ihres Vaters?
Als sie nach ihrer Lippenpomade suchte, stieß sie in ihrer Tasche auf die fein säuberlich gefalteten Papiere, die Benet auf den Boden gefallen waren. In dem Moment hatte sie sie nicht lesen wollen, sie wollte Van Upp gegenüber nicht illoyal sein. Sie hatte sie zusammengefaltet, eingesteckt und vergessen. Jetzt packte sie die Neugier.
Es handelte sich um einzelne Fotokopien. Manche Seiten waren abgeschnitten. Benet war ein Plebejer im Reich der Papiere und Beweise.
Ein Blatt trug den Briefkopf der Abteilung Interne Angelegenheiten und enthielt einen Ausschnitt aus dem psychiatrischen Gutachten. »Schreckliche Wahnanfälle, in denen er sich die Schuld an allen möglichen Unglücken gibt. Unkontrollierbare Gewaltausbrüche, Autoaggressionen …« Das zweite und das dritte Blatt waren Teil einer Akte des Geheimdienstes. Hier ging es um den Werdegang Van Upps: als Kind ausgesetzt, Kindheit im Waisenhaus, spätere Adoption (was war aus diesem Miguel Urquiza, dem gesetzlichen Vater Van Upps, geworden? War er gestorben?), abgebrochenes Architekturstudium, Eintritt in den Polizeidienst. Nora stellte sich diese Kindheit vor und versuchte, den Gedanken sogleich wieder aus ihrem Kopf zu verbannen, indem sie sich auf einen Pflaumenbaum im Garten konzentrierte; sie
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