Der Spion der Zeit
steht alles in den Gerichtsakten.«
»Ich weiß.«
»Warum fragen Sie dann?«
»Ich brauche Informationen.«
»Andere, als in den Akten stehen?«
»So ist es.«
»Warum stellen Sie dann nicht die entsprechenden Fragen?«
»Das wollte ich ja gerade!«, sagte Benet mit erhobener Stimme.
Chiang zog an seinem rechten Ohrläppchen und sagte: »Wer’s glaubt, Hinterwäldler.«
Benet blieb die Luft weg. Er war es nicht gewohnt, während eines Verhörs in Frage gestellt zu werden, und schon gar nicht von dem Befragten. Er schwieg noch, als Chiang nachlegte: »Wissen Sie, worüber Umschweife in der Rede eines Menschen psychologisch Auskunft geben? In sexueller Hinsicht, meine ich.«
Benet antwortete nicht. Er hatte auch nicht verstanden, was Chiang ihm mitteilen wollte. Sein einziger Gedanke war, dass eigentlich er die Fragen stellen sollte.
»Was ist an jenem Abend passiert?«, fragte er und versuchte, die Initiative wieder zu übernehmen. Noch bevor Chiang den Mund aufmachen konnte, kam er ihm zuvor und präzisierte seine Frage: »Was ist wirklich geschehen?«
Chiang schien seine Körperpflege beendet zu haben. Er versuchte vergeblich, das platt gedrückte Kissen aufzuschütteln, und legte sich auf die Pritsche, als wollte er schlafen.
»Ich habe während des Prozesses alles gesagt, was es darüber zu sagen gibt. Der Fall ist abgeschlossen. Auch für mich.«
Mit einem Seufzer schloss er die Augen und schlang die Hände auf der Brust ineinander.
Dumont und Benet sahen sich hilflos an.
»Dass der Fall abgeschlossen ist, heißt noch nicht, dass die Polizei Sie dazu nicht mehr befragen darf«, sagte Dumont. Er ließ ein paar Sekunden verstreichen (Chiang lag weiter reglos da) und merkte dann, dass er vergeblich auf eine Antwort wartete: Er hatte ja keine Frage gestellt.
Er lächelte.
»Wo ist der Witz?«, fragte Benet. Er war verärgert.
Dumont hob die Hand, er möge sich gedulden.
»Die Euro-Bombay-Gesellschaft«, sagte er, »hat zwei Mutterhäuser in Rom und Madras und unzählige Niederlassungen: Boston, London, Wien, Kairo, Hongkong, Osaka. In den Dokumenten taucht sie als Import-Export-Firma auf. Das heißt, Sie und Ihre Angestellten sind über die ganze Welt verstreut. Auffällig ist jedoch, dass die Euro-Bombay nicht zu den ersten zwanzig internationalen Unternehmen auf dem Gebiet zählt. Und wenn die Gewinne nicht so hoch sind, wieso dann eine solch weltweit verzweigte Organisation mit Tausenden von Angestellten? Außerdem eilt ihr der Ruf voraus, dass die Geschäfte florieren. Allerhand mögliche Anschuldigungen: Waffenhandel, illegale Substanzen. Niemals bewiesen, aber …«
Er hätte den ganzen Tag so weitermachen und darauf warten können, dass Chiang bei irgendeiner Perle dieses Rosenkranzes von Anwürfen reagierte. Er musste seine Taktik ändern. Ihm blieb nicht viel Zeit. Benet war kurz davor, auszurasten.
»Ich will wissen«, sagte er, »warum ein so mächtiges Unternehmen stillschweigend und ohne Protest einen seiner Manager ausliefert, obwohl es beim Polizeieinsatz, bei dem er verhaftet wurde, eine Menge Unregelmäßigkeiten gab. Warum hat Ihr Anwalt nicht Berufung gegen das Urteil eingelegt?«
»Versager sind bei der Gesellschaft nicht gut angesehen. Und jetzt verschwinden Sie. Auf Wiedersehen. Verbrecher und Gefängniswärter sind mir zuwider, und Sie sind beides.«
Chiang seufzte und schloss wieder die Augen.
Benet packte Chiangs ineinandergeschlungene Hände und drückte zu. Ein grauenhaftes Knacken verriet, dass mindestens sieben von zehn Fingern gebrochen waren; der Schmerzensschrei kam später.
Dumont wich zurück und stieß mit dem Rücken an die Wand.
Auf Chiangs Schrei folgten noch weitere. Dumont lauschte, wie sich ihr Echo durch die Flure des Gefängnisses verbreitete. (Man hörte einen Pfiff.)
Benet drückte jetzt Chiangs rechten Daumen, der noch nicht zermalmt war. Der Häftling konnte sich nicht verteidigen. Er versuchte mit der freien Hand nach ihm zu schlagen, aber bei jedem Schlag spürte er die Stiche in dem verwundeten Fleisch.
»Das ist Ihre letzte Chance! Reden Sie!«, schrie Benet und versuchte dabei Chiangs Geschrei zu übertönen. Der Häftling schüttelte den Kopf wie ein Besessener.
Benet verdrehte seinen Daumen, der zerbarst wie ein trockener Ast.
Jetzt blieben die Schreie aus; Chiang war ohnmächtig geworden.
Dumont versuchte Benet zurückzuhalten, aber dessen Blick ließ ihn sogleich davon Abstand nehmen: Er sah aus wie ein wildes Tier, dem man
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