Der Spion der Zeit
Kopfschmerzen. Sie setzten ihn außer Gefecht. Es war, als würde ein riesiger Adler die Klauen in seinen Schädel bohren und ihn in schwindelnde Höhen entführen, dorthin, wo die Luft dünn ist.
Mit jedem Kopfschmerz tauchten neue Erinnerungen auf. (Ein grausamer Prozess.) Zu wissen hieß leiden. Der Adler ließ ihn fallen, und er stürzte hinab ins Meer; das Salz brannte in seinen Wunden, und das Wasser (die Erinnerung) drang durch die frisch geschlagenen Löcher in seinen Geist ein und überflutete ihn.
Aus jedem Anfall tauchte er keuchend wieder auf, voller Bilder und Empfindungen, in denen er nicht immer eine Ordnung oder einen Sinn erkennen konnte. Dann versuchte er das Rätsel wie von einer Wolke aus auf höherer Ebene zusammenzusetzen. Am Ende fand er Antworten (die, so viel wusste er, ihm zwar halfen zu funktionieren, aber deshalb noch lange nicht der Wahrheit entsprachen), und das Leben verlief im selben betäubten Modus weiter wie gehabt.
Mit der Zeit war die einzige verbleibende Leerstelle bei der Rekonstruktion von Van Upp der Brand im Hafen. Bevor er mit dem Fall betraut wurde, hatte er einen Anruf erhalten, man bot ihm an, in den Dienst zurückzukehren. Es handelte sich zunächst um einfache Bürotätigkeiten auf einem Vorstadtrevier, bis er sich wieder imstande fühlen würde, auf die Straße hinauszugehen. Die Formulierung amüsierte ihn: als läge die Entscheidung darüber in seinen Händen.
Allmählich wurde er von der Behaglichkeit der Stundenpläne, der Rituale, der vertrauten Stimmen aufgesogen, und das Rätsel verschwand zunehmend im Hintergrund. Was ihn nicht einmal beunruhigte, im Gegenteil, er deutete es als Zeichen seiner Genesung.
An einem Abend, kurz vor Ferrers Tod, beschloss er, zu den Kais zurückzukehren. Er wollte wissen, ob die Erfahrung vor Ort (das Licht, die Zeit, die Luft, die Maschinengeräusche, die zur Ruhe mahnten – alles genau wie damals) seinen Hunger nach der Wahrheit wieder wecken würde. Doch er stieß auf keinen Widerhall. Alles schien ihm neu. Bald hatte er vergessen, warum er dort war; er beobachtete die Arbeiter, mehrheitlich Asiaten, die aus den Nischen strömten, in denen sie seit dem Morgengrauen gearbeitet hatten, um in ihre Häuser, ihre Hütten, ihre Zelte zurückzukehren, während die Möwen über die Schatten am Dock spazierten.
An dem Abend war ihm auch die Frau aufgefallen. Sie war jung, fast noch ein Kind, und sie wirkte müde. Er hatte sie angesehen, weil sie saubere Füße hatte, während die der anderen Frauen voller Fischschuppen waren. Dies war das Zeichen für einen rebellischen Geist. Instinktiv war er ihr gefolgt. Er hatte denselben Bus genommen und war gemeinsam mit ihr ausgestiegen.
Sie gingen über die gepflasterten Straßen. Es war das erste von unzähligen Malen. Im Chinesenviertel sahen alle Häuser aus wie das von Mei.
VIII
Schwester Solange hatte den Fremden am Vormittag bemerkt. Er saß auf einer der Bänke im Park, was sie nicht weiter beunruhigte: als würde er auf jemanden warten. Schon bald hatte sie ihn vergessen. Es war ein aufregender Tag, und sie konnte an nichts anderes denken als daran, möglichst schnell in die Nähe eines Radios zu gelangen, damit sie den Besuch des Papstes auf Schritt und Tritt mitverfolgen konnte.
Doch als der Fremde am Mittag immer noch dort saß, begann sie sich zu sorgen. Er schien zu schlafen. Erbarmungslos brannte die Sonne auf ihn nieder wie zu seiner Exekution. Der ins Gesicht gerutschte Hut, die schlaffen Beine … Und wenn er tot war? Sie empfahl sich den höheren Mächten und traf eine Entscheidung, die sie trotz der Kürze des Weges (der hufeisenförmige Gang, die Treppe, der Park voller Pfützen) ein paarmal hinterfragte.
Erst, als sie ganz nah bei ihm stand, bemerkte sie, wie groß der Mann war. Sie stellte sich vor, wie sie versuchte, den massigen Körper von der Stelle zu bewegen, und sah sich im Geiste schon mit einer Bronzestatue kämpfend im Schlamm liegen.
»Hallo? Sie sind der Polizist, nicht wahr?«
Van Upp schrak aus dem Schlaf auf.
Es fiel ihm schwer, sich daran zu erinnern, wo er war. Der Habit der Nonne half ihm dabei.
»Oh. Guten Tag. Habe ich Sie erschreckt?« Schwester Solange lachte nervös auf.
»Van Upp. Ich war ein paarmal hier, um …«
»Pater Quiroz zu besuchen, ja. Jetzt erinnere ich mich.«
Natürlich erinnerte sie sich an ihn. Sie war überrascht, dass sie diese eigenwillige Gestalt nicht gleich erkannt hatte. Lag es daran, dass er an diesem Mittag
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