Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Der Spion der Zeit

Der Spion der Zeit

Titel: Der Spion der Zeit Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Marcelo Figueras
Vom Netzwerk:
Sie begleiten. Wann findet die Messe statt?«
    »Kennen Sie ihn schon lange?«, fragte Moliner.
    »Wen?«
    »Van Upp.«
    »Nein.«
    Moliner versuchte, die Zeitung zu einer immer schmaleren Röhre zusammenzudrehen.
    »Ein komischer Typ«, sagte der Exgeneral. »Haben Sie seine Hände gesehen? Er macht mich nervös.«
    »Darauf versteht er sich.«
    »Als würde es ihn die ganze Zeit eine übermenschliche Anstrengung kosten, sich zu beherrschen«, sagte Moliner und fuchtelte mit der Papierrolle herum.
    Der Henker war ein schlanker alter Mann mit graumeliertem Schnauzer und schlichter Kleidung. Neben dem Mund hatte er ein Muttermal und Aknenarben, unter den störrischen Augenbrauen blitzten kleine braune Augen. Er verwendete Haargel, von der billigen Sorte, die Schuppen hinterließ. Und er trug Pantoffeln! Es war nichts Außergewöhnliches an ihm. Bis auf den Blick. Der dunkle, undurchdringliche Blick erinnerte sie an einen Hai: Augen, die alles erfassen, aber nichts bewerten, außer wenn es darum geht, Beute zu machen.
    »Bei Van Upp muss ich an eine Stelle aus dem zweiten Buch Mose denken«, sagte Moliner. »An ein Bild, das beschreibt, wie ein sehr machtvolles Wesen sich taktvoll verhalten will. Es ist das Bild eines Vulkans in einem Zelt.
    Verstehen Sie? Eine Naturgewalt, die sich von einem Zelt beherbergen lässt, ohne ihm auch nur die Holzstreben mit Ruß zu verschmutzen.«
    »Ich glaube, der Kaffee bekommt Ihnen besser als mir. Wenn Sie mich entschuldigen«, sagte Nora und stand auf.
    Wenn sie nur wüsste, wo sich Van Upp aufhielt.
    VI
    Als die Dürreperioden ärger wurden, fuhren keine Versorgungsschiffe mehr die Insel im Delta an. Dank der Vorräte in seiner Speisekammer konnte Van Upp eine Weile überleben, aber dass er auf frische Lebensmittel verzichten musste – die Fische starben reglos in den Rinnsalen –, hatte den Ausschlag für seine Entscheidung gegeben. Er packte seine Habseligkeiten zusammen (die Briefe, die Bücher, die Zeitungsausschnitte, seine Pillen), zog die Schaftstiefel an, durchquerte das trockene Flussbett und nahm den nächstbesten Zug.
    In Santa Clara bezog er eine Mansarde im vierten Stock.
    Die Euphorie über die wieder eingeführte Demokratie war immer noch spürbar, dennoch empfand Van Upp die Stadt als Feindesland. Santa Clara ähnelte zu sehr der Stadt aus seinen bruchstückhaften Erinnerungen. Dieselbe Aufmachung. Die Hektik. Dieselben Farben und Schlaglöcher. Der Geruch von Bratfett und heißem Asphalt. Der salzige Wind an der Strandpromenade. Die gelben Ameisen, die unter der Erde zu denselben Banken, denselben Büros eilten. Das schwache Echo der immergleichen Zeitungsschlagzeilen. Dieselben Abwasserkanäle voller Müll.
    Es kam ihm verdächtig vor, dass seine Sinne Santa Clara so schnell wiedererkannten. Er konnte das Bild der Stadt, wie sie in seinem Körper abgespeichert war, nicht damit in Einklang bringen, was er über die Geschehnisse während seiner Abwesenheit gehört hatte. Wenn nur die Hälfte von dem, was man ihm erzählt hatte, stimmte, musste die Stadt eine andere sein; man müsste ihre Veränderung bemerken. Doch die Imitation des früheren Lebens war bis ins Detail hinein so vollkommen, dass Van Upp sich fragte, ob Santa Clara nicht auf dieselbe Weise Santa Clara zu sein versuchte wie er Van Upp: durch einen reinen Willensakt.
    Unter den Leuten, die anriefen, um sich nach seinem Befinden zu erkundigen, wählte er ein paar wenige aus (er wollte niemanden sehen, der ihn gut gekannt hatte; Carranza mied er absichtlich) und traf sich mit ihnen. Zuerst war er sparsam mit Worten und Gesten. Er tastete sich vor, machte ein paar einzelne Bemerkungen und testete, welche davon Befremden auslösten und welche man offenbar als zu ihm zugehörig betrachtete. Auf diese Weise konstruierte er einen Van Upp, wie man ihn haben wollte und den er sich überstreifte wie ein Kleidungsstück, sobald er unter Leuten war. Er war nicht sicher, ob er Van Upp war oder ob er ihn nur spielte. Mit der Zeit wurde der Unterschied für ihn unbedeutend, und er fing an, sich in seiner Haut wohl zu fühlen, er wusste, jede Unstimmigkeit würde man seiner ungewöhnlichen Geschichte zuschreiben.
    VII
    Es gab eine Methode, mit der er Zugang zu seinen Erinnerungen fand. Er hatte sie schmerzlich am eigenen Leib erfahren, und der Preis dafür war hoch. Solange er die verschriebenen Medikamente vorschriftsmäßig einnahm, funktionierte alles reibungslos. Doch sobald er eine Tablette vergaß, kamen die

Weitere Kostenlose Bücher