Der Spion der Zeit
Hafens.
II
Niemand, der mit David Chiang in seinem früheren Leben zu tun gehabt hatte (als er lediglich der Sohn des chinesischen Botschafters in Kairo war, ein kleiner Teufel, der zehn Sprachen beherrschte; als er Philologie in Oxford studierte oder als er sich in Trinidad als Vertreter der Internationalen Euro-Bombay-Gesellschaft niederließ, eine Funktion, die dem zweiundzwanzigjährigen Jungspund schnell zu Kopf gestiegen war), hätte ihn jetzt wiedererkannt, so still, fast schon kriecherisch, wie er war.
Chiang war immer ein Bonvivant und Zauberkünstler gewesen. Während seiner ersten Monate in Santa Clara hatten seine Talente als Medium das Gesprächsthema in der High Society abgegeben. Keine Abendgesellschaft (und Chiang ließ keine aus), bei der die Damen nicht schüchtern auf ihn zutraten und hofften und zugleich befürchteten, dass er sie mit seinen Blicken durchbohrte, um in den tiefen Schacht ihrer Geheimnisse vorzudringen.
Wenn man Chiang zu diesem Phänomen befragte, stritt er ab, im Besitz derartiger Fähigkeiten zu sein, und leitete zu weniger extravaganten Themen über. Im nachfolgenden Gespräch gab er seinen Gesprächspartnern allerdings stets zu verstehen, dass er mehr über sie wusste, als jemals erwähnt worden war: meistens über ihre Herkunft, die Universität oder ihre Lieblingslektüre – die nicht selten peinlich war. Die Wirkung dieser Behauptungen war vernichtend. Chiang hatte die Absicht, seinem Gesprächspartner zu demonstrieren, wie durchsichtig er für ihn war (die Symptome wiederholten sich mit kosmischer Präzision: plötzliches Erblassen oder Erröten, hektisches Atmen, Schweißausbrüche), dann entschuldigte er sich, strebte in eine andere Ecke des Salons und wandte sich anderen Leuten, einem neuen Publikum zu.
Chiang verfügte keineswegs über paranormale Fähigkeiten, sein Talent war wissenschaftlicher Natur: Er konnte die Information lesen, die in der Sprache der Menschen verborgen war. Ganz gleich, wie viele Reisen der Mensch während seines Lebensabenteuers gemacht, wie viel er gelernt und gelesen hatte, die anfängliche Prägung ließ sich niemals vollständig auslöschen, die Erfahrungen legten sich wie Blätterteigschichten darüber, und Chiang verstand es, diese geologische Formation präzise zu deuten.
Kurz, er ähnelte Professor Higgins in George Bernard Shaws Pygmalion. Doch auch wenn Higgins hinlänglich bekannt war, reagierten die Eliza Doolittles von Santa Clara auf Chiang wie Provinzmädchen. Er weckte Erstaunen in ihnen, Respekt und Furcht. (Wenn Chiang etwas herausfand, an dessen Vergessen die Damen hart gearbeitet hatten, flüsterte er es ihnen ins Ohr; so wurde es zu süßem Gift.)
Doch der Chiang, den Benet und Dumont im Gefängnis besuchten, war äußerst wortkarg und aller Hoffnungen beraubt. Das hatte die Haft binnen weniger Jahre bei ihm erreicht.
»David Chiang?«, fragte Benet, als sie die Zelle betraten. Es handelte sich um einen sechs Quadratmeter großen Raum mit schmutzigen Wänden, dem nichts Wirtliches anhaftete. Den größten Teil der Zelle nahm eine Pritsche ein, auf der Chiang die meiste Zeit verbrachte. Sein Rechtsanwalt hatte erwirkt, dass er in der Zelle bleiben durfte und von den obligatorischen Zusammenkünften der Häftlinge in den Gemeinschaftsräumen wie Speisesaal, Dusche und anderen ausgenommen war; die Häftlinge in Trinidad hatten keine große Achtung vor Asiaten, und vor hochnäsigen schon gar nicht. So erklärte sich der Geruch nach Abfällen und Fett in der Zelle.
Chiang reagierte nicht auf die Frage. War es vielleicht ein anderer, der anstelle von David Chiang dort einsaß? Als Antwort benetzte er lediglich seine Fingerspitzen mit Spucke und fuhr sich über die Augenbrauen.
»Sergeant Benet. Abteilung Eins. Ich muss Ihnen ein paar Fragen stellen.«
Chiang putzte sich schweigend weiter wie eine Katze.
»Soweit ich weiß, haben Sie eine Firma geleitet. Die, wie hieß sie doch gleich, Euro-Bombay«, sagte Benet, der den Namen erst in seinem kleinen Notizbuch nachschauen musste.
»Lokale Geschäfte«, sagte Chiang.
»Wie?«
»Die Euro-Bombay ist eine internationale Gesellschaft. Ich habe sie nie geleitet. Ich habe mich nur um die Geschäfte hier vor Ort, in Santa Clara, gekümmert.«
»Oh. Ähm … ich hatte das so verstanden, dass Sie am Kai 17 anwesend waren, als …«
»War ich. Anwesend. Wie so oft.« Zur Befeuchtung seiner Finger fuhr er seine winzige dunkle Zunge aus.
»Ich meine, am Tag des …«
»Das
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