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Der Spion der Zeit

Der Spion der Zeit

Titel: Der Spion der Zeit Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Marcelo Figueras
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zufrieden, er wollte wissen, wohin er fuhr. Herr Krupke erwiderte, er reise nach Grönland, nach Qaqortoq, um genau zu sein. Der Fahrer hatte noch nie von diesem Ort gehört. Herr Krupke erklärte ihm (er wirkte nicht verärgert, dass der andere ihn ausfragte, im Gegenteil, er machte den Eindruck, als genieße er es, die Neugier des anderen befriedigen zu können), Qaqortoq sei ein Dorf in einem Gebiet mit rauem Klima, es liege knapp unterhalb des Dachs der Welt. Es sehe aus, als habe man es dem Eis abgerungen; das Licht sei gleißend hell, und deshalb nenne man es »den Punkt, an dem alle Farben zusammenfließen«.
    Der Fahrer wollte wissen, ob er dort geschäftlich zu tun habe. Herr Krupke sagte, er wolle sich in Qaqortoq niederlassen. Geschäftlich, fragte der Fahrer wieder. Nein, erwiderte Herr Krupke, er habe weder Arbeit noch kenne er jemanden in Qaqortoq.
    Der Taxifahrer sah seinen Fahrgast im Rückspiegel an. Er kam zu dem Schluss, dass der Kerl sich nicht über ihn lustig machte, er schien die Wahrheit zu sagen. Besorgt fragte der Fahrer, wie er denn seinen Lebensunterhalt verdienen wolle.
    Herr Krupke lächelte wieder, schaute aus dem Fenster und gab ihm damit zu verstehen, dass ihn das nicht bekümmerte.
    An Bord des Zuges hatte er rasch seine Plätze eingenommen. Er hatte nicht nur ein Ticket gekauft, sondern gleich die drei anderen für die benachbarten Sitze mit. (In den Wagen des Zuges Kopenhagen-Hundested waren die Sitze in Vierergruppen angeordnet.) Die Ausgabe hatte er nicht getätigt, weil er menschliche Gesellschaft vermeiden wollte, es war eine Frage der Bequemlichkeit.
    Herr Krupke war sehr groß.
    XI
    Laut den Dokumenten, die ihn als dänischen Staatsbürger auswiesen, hieß Van Upp Leopold Jan Krupke, er war sechsundfünfzig Jahre alt und lebte in Kopenhagen. Die Wohnung am Strandboulevard, seiner offiziellen Adresse, lag an der vom Hafen abgewandten Hausseite. Der große Unterschied zwischen seinem wahren Alter und dem in seinen Papieren kümmerte ihn nicht weiter: Das fast weiße Haar und die Flecken an den Händen und im Gesicht machten ihn zu einem alterslosen Mann.
    In ein paar Tagen entwickelte sich der Schatten über seiner Lippe zu einem feinen Schnurrbart. Die Ähnlichkeit mit dem Mann auf dem Passfoto war verblüffend; eine Feststellung, die ihn gleichermaßen erleichterte wie auch beunruhigte.
    Der Wagen des Zuges Kopenhagen-Hundested war fast leer. Dennoch wartete er, bis der Zug die Stadt hinter sich gelassen hatte, bevor er den Aktenkoffer öffnete. Auf der Höhe von Gladsaxe war es so weit. Im Koffer befand sich nichts Besonderes (er beabsichtigte tatsächlich, nach Qaqortoq zu reisen; dem Taxifahrer hatte er es gesagt, weil er sich sicher, fast schon wagemutig gefühlt hatte): Zigaretten, eine Flasche Absinth, ein Buch und ein dicker, in Santa Clara abgestempelter Umschlag.
    Der Umschlag trug seinen Namen und seine alte Adresse, von Hand geschrieben. Es stand kein Absender darauf, aber den brauchte Van Upp auch nicht. Er kannte Carranzas Schrift.
    Der Brief war am Morgen nach Moliners Ermordung bei ihm eingetroffen, als Van Upp schon im Aufbruch begriffen war.
    Es handelte sich zweifellos um eine Nachricht von Carranza. Das Datum des Poststempels war eindeutig: der Tag, an dem er Selbstmord begangen hatte. Der Gerichtsmediziner hatte seinen Abschiedsbrief der stets pünktlichen Post anvertraut. Das war wohlüberlegt, auf diesem Weg konnte nichts schiefgehen, und zugleich gab es keinerlei Spuren.
    Van Upp hatte entschieden, ihn erst einmal nicht aufzumachen. Er fürchtete, die Seiten könnten seine Entschlossenheit, seinen Rhythmus, seinen wunderbaren Plan ins Wanken bringen. Aber nicht einmal war ihm der Gedanke durch den Kopf gegangen, den Brief zu vernichten. Dazu kannte er sich zu gut: Er konnte mit der Wahrheit spielen, sie hinauszögern wie ein zartfühlender Liebhaber, aber er war unfähig, ihrem Ruf zu widerstehen.
    Er hatte den Brief in den Koffer gelegt und gewartet, dass der Regen stärker wurde. Er fühlte sich sicherer, wenn das Wasser auf ihn herabrieselte. Dann war er auf die Terrasse hinausgegangen, ohne das Licht auszumachen oder die Wohnungstür abzuschließen. Er war auf das Dach des Nachbarhauses gesprungen und über die Feuerleiter in den Hinterhof eines chinesischen Restaurants hinuntergeklettert. Von diesem Hof führte ein Gang zur Straße.
    Die Tage nach seiner Flucht hatte er wie ferngesteuert gelebt. Nicht einmal hatte er an den Brief gedacht. Es gab

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