Der Spion der Zeit
Dringlicheres zu erledigen: die Reiseroute, die Verkleidung, das Erlernen der dänischen Sprache. (Van Upp besaß nicht nur eine ausgeprägte Sprachbegabung, bei ihm war es schon eine mimetische Fähigkeit: Er streifte sich einen Akzent über wie andere Leute einen Handschuh.) Der Brief musste warten. Alles hatte seine Zeit.
Und jetzt, im Wagen des Kopenhagen-Hundested-Zuges, war diese Zeit gekommen.
Van Upp hielt den Umschlag über den Luftaustritt der Heizung. Nach ein paar Minuten wurde der Kleber flüssig.
Der Brief verströmte keinen seltsamen Geruch, lediglich den nach Papier und Tinte.
Van Upp stellte die Füße auf die gegenüberliegenden Sitze und zündete sich eine Zigarette an. In wohlweislicher Voraussicht trug er seine getönte Brille, denn die Landschaft draußen war schmerzlich hell.
Mein lieber Van Upp, begann der Brief, zunächst einmal möchte ich zum Ausdruck bringen, wie sehr ich das alles bedaure. Ich bin nicht aufrichtig gewesen. In den letzten Tagen habe ich Sie belogen, Sie getäuscht und Informationen zurückgehalten. Das dürfte ausreichen, um jegliche Zuneigung in der Erinnerung an mich auszulöschen; wenn Sie mich für immer aus Ihrem Herzen verbannen wollen, ist das Ihr gutes Recht.
Doch das ist nicht der einzige Schaden, den ich Ihnen zugefügt habe. Wenn Sie diese Zeilen lesen, wird mein Handeln bereits verhängnisvolle Auswirkungen auf Ihre Karriere gehabt haben. Noch einmal: Ich bedaure das zutiefst. Im Leben, da werden Sie mit mir einer Meinung sein, ist ein treffsicherer Schuss so gut wie unmöglich. Es war unumgänglich, Sie zu verletzen! Verzeihen Sie mir!
Ein paar Stunden hatte ich die Hoffnung gehegt, Sie wüssten alles. Vor ein paar Minuten, im Parkhaus des Präsidiums, glaubte ich, Sie würden es mir ins Gesicht sagen und dem Drama ein Ende bereiten. Ich hätte mich freiwillig ergeben. Aber nichts dergleichen geschah. Sie waren so anders, distanziert. Ich wagte es, Sie zum Spiel aufzufordern, um zu sehen, ob wir immer noch auf derselben Wellenlänge lagen. In Ihrem Auto zitierte ich Hamlet, erster Akt, fünfte Szene. Sie wissen, wovon ich spreche: die Stelle, an der der Prinz von Dänemark Horatio erklärt, er werde Wahnsinn vortäuschen, während er die Wahrheit herausfinden wolle und – was nicht weniger bedeutend ist – während er Zeit gewinnt, um zu entscheiden, was er tun wird. Von Ihnen kam keine Reaktion. Meine Scham war umso größer. Ich habe mich nicht getraut, Ihnen etwas zu sagen.
Ich hätte fliehen können, aber dafür bin ich zu alt und zu müde. Ich habe mein Glück überstrapaziert. Mir bleibt nur noch eins: der letzte Sprung, das Schweigen, der Vorhang. Das erspart uns allen viele Unannehmlichkeiten. Aber ich möchte nicht, dass mein Verschwinden geheimnisumwoben bleibt. Ich möchte, dass Sie das Ausmaß meiner Taten begreifen, Sie sollen verstehen, wie ich sie ausgeführt habe und was meine Motive waren, mich auf eine solche Verschwörung einzulassen.
Denn niemand tut, was er tut, weil er den Verstand verliert oder weil sein Urteilsvermögen kurzzeitig getrübt ist. Jede einzelne meiner Handlungen gehorchte einem Plan. Und wenn ich mit meinen Taten das Gesetz übertreten habe, dann tat ich das, weil das Gesetz dem heiligsten aller Prinzipien nicht gerecht wurde: Gerechtigkeit walten zu lassen. Dass jeder Mensch, unterschiedslos, für sein Handeln einzustehen, dass er die Konsequenzen dafür zu tragen hat.
Ich bilde da keine Ausnahme. Wenn Sie das lesen, werde ich mit Sicherheit tot sein.
Ich habe diesen Tod wohl verdient, denn ich habe die Prätorianer ermordet.
XII
Anfangs war es nur ein Spiel. Ich stellte mir vor, wie ich es täte. Ich kann nicht schießen, ich verstehe nichts von Sprengstoff. Ich bin Arzt. Es war vorgezeichnet, in welche Richtung meine Schritte gehen würden.
Das Spiel wurde zu einer Herausforderung. Der Plan schien perfekt zu sein, wie so viele Dinge, über die man tausendmal nachdenkt und dabei weiß, dass man sie niemals tun wird. Bis man eines Tages den ersten Schritt tut. Einen ersten, völlig harmlosen Schritt, der es einem immer noch erlaubt, seine Meinung zu ändern und alles bleiben zu lassen: ein Telefonanruf. Ich rief bei Ferrer an, stellte mich mit meinem Namen und in meiner Funktion als Gerichtsmediziner vor. Unter dem Vorwand, ich hätte eine Leiche auf den Tisch bekommen, in deren Magen sich ein Zettel mit seiner Telefonnummer fand (die Nummer, unter der ich ihn gerade erreicht hätte), außerdem gäbe
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