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Der Spion der Zeit

Der Spion der Zeit

Titel: Der Spion der Zeit Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Marcelo Figueras
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getötet. Seit sie es getan hatte, wurde sie das Gefühl nicht los, Benets Seele habe sich auf sie gelegt, so wie Kautschuk, wenn man ihn verbrennt, und dass sie seitdem zusammenlebten. Aber zugegebenermaßen quälte Benet sie nicht. Sie ertappte sich mehrfach dabei, wie sie mit ihm sprach. Seine Stimme klang erstaunt und tolerant, und sie verstummte, sobald Nora nach seinem Leben, nach Moliner oder nach dem Spion der Zeit fragte.
    An dem Morgen, an dem sie der Albtraum aufgeschreckt hatte, ging Nora ins Wohnzimmer, setzte sich in ihren Sessel und las das Buch ein weiteres Mal. Sie fürchtete sich nicht. Sie war betäubt. Unter den Pillen, die sie genommen hatte, waren welche, die den Gefühlen jegliche Schärfe nahmen, sie machten sie flach wie glatte Kieselsteine, ununterscheidbar.
    Als die Erzählung sich der Gegenwart näherte (sie brach 1924 in Argentinien ab, dort war der Spion zum letzten Mal entkommen), verspürte Nora eine innere Unruhe. Verstört beendete sie die Lektüre wenige Seiten vor dem Schluss und machte das Licht aus. Obwohl die Sonne im Zenit stand, war es dunkel in der Wohnung; die Rollläden waren immer noch heruntergelassen.
    Im Halbdunkel schienen die Umrisse der Möbel zu vibrieren, als rängen sie darum, ihre Form zu bewahren. Plötzlich wurden die Linien dieser vertrauten Landschaft ihr fremd.
    Sie wollte diesem Gefühl ausweichen, indem sie sich auf die Geräusche von der Straße konzentrierte: ein vorbeifahrendes Auto, das Höflichkeitsgeplänkel der Nachbarn (»Guten Tag, Don Luis«; »Hier ist Ihre Post, Señora Lopez, verzeihen Sie die Verspätung«), das Lied eines Kinderreigens. Alles derart vertraute Klänge, dass sie fast lautlos waren; Nora musste sich anstrengen, sie überhaupt wahrzunehmen. Doch etwas an der Angemessenheit der Lautstärke, des Timbres, der perfekt synchronen Abfolge erschreckte sie.
    Sie fing an zu glauben, dass der Traum überhaupt erst begonnen hatte, seit sie aus dem Albtraum aufgewacht war. Sie erinnerte sich nicht daran, weil er nie existiert hatte; sie hatte lediglich geträumt, dass sie aus einem Albtraum erwachte, ein Buch nahm, um sich abzulenken, und dass jemand an ihre Tür kam und dort still wartete, ohne zu läuten, jemand (so wusste sie jetzt), den sie kannte, jemand (die Worte dieses kleinen Männchens namens Dufresne verfolgten sie: »Sie haben nicht die geringste Ahnung, nicht wahr? Sie wissen nichts. Sie haben nicht einmal einen Verdacht!«), der Ozeane an Zeit durchquert hatte, um dorthin zu gelangen.
    Jemand mit Löwengesicht und blitzenden Augen. Jemand, der sich in seiner Mutter nicht wiedererkennen würde.
    Nora stand auf und warf das Buch ins Kaminfeuer. Es war ein Reflex. Sie sah zu, wie es verbrannte. Dann nahm sie das Schüreisen, zermahlte die verkohlten Seiten und vermischte sie mit der übrigen Asche. Das Metall des Feuerhakens wurde heiß, erst da spürte sie, dass sie wach war.
    Noch im Nachthemd zog sie Schuhe und Mantel an und machte die Tür zur Straße zum ersten Mal seit vielen Tagen sperrangelweit auf.
    Es war niemand da.
    Keine Autos. Keine Nachbarn. Keine Kinderreigen.
    X
    Der Zug Kopenhagen-Hundested war ein Museum auf Rädern.
    In einigen Details hatte er sich den Charme vergangener Zeit bewahrt: Deckenventilatoren, Lampenschirme aus Malmö-Kristall und petrolgrüne Polster. Einzige Konzession an die modernen Zeiten war das Heizungssystem. Die Kohlebecken, kleine Metallkunstwerke mit faszinierend klarer Linienführung, waren noch vorhanden, aber leer. Ihre einstige Funktion wurde jetzt von einem elektrisch gesteuerten System übernommen, das die Temperatur in jedem Wagen regulierte und dafür sorgte, dass die Scheiben klar blieben. Die Entscheidung der Zugbetreiber, eine Gesellschaft mit Sitz in Frederiksborg, man solle das Schöne mit ungetrübtem Blick betrachten können, hatte durchaus etwas Poetisches.
    Herr Krupke verließ Kopenhagen in diesem Zug. Er hatte seine Wohnung am Strandboulevard abgeschlossen, war zum Schloss Amalienborg gegangen und hatte dort ein Taxi zum Bahnhof genommen. (Zwei hatte er vorbeifahren lassen, erst ins dritte, einen geräumigen Bentley, war er dann eingestiegen.)
    Der Fahrer, ein redseliger Zeitgenosse, fragte, ob er jemanden erwartete. Herr Krupke sagte, er habe die Frage nicht recht verstanden. Der Fahrer wies ihn darauf hin, dass er kein Gepäck dabei hätte. Herr Krupke lachte, hob seinen Aktenkoffer ein wenig an und klopfte auf das Leder.
    Doch so schnell gab sich der Fahrer nicht

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