Der Spion der Zeit
stand. Sie war erstaunt gewesen, dass Benet ein Buch bei sich hatte. Und weil es bestimmt niemand vermissen würde, hatte sie es eingesteckt.
Es handelte sich um eine Taschenbuchausgabe. Der Verlag war ihr unbekannt: Edition Jakob, Rom/Madras. Auffällig war, dass es keinerlei Begleitinformationen enthielt: nichts über den Autor, Lux Aeternam – eindeutig ein Pseudonym –, nichts über den Inhalt des Buches (weder Anmerkungen noch Vorwort, noch Widmung), kein Hinweis auf das Genre oder sonstige Aufschlüsse. Ton und Sprache nach zu urteilen, handelte es sich wohl um einen dieser esoterisch angehauchten Texte, die so oft die Bestsellerlisten anführten.
Das Buch begann mit folgendem Satz: »Und solange der Spion in Freiheit bleibt und lebt, und eine seiner zwölf Gestalten annimmt, wird das Reich weiter unter uns sein, wir können es nur nicht sehen.«
Man konnte den Text als Krimi, aber genauso gut als Abenteuerroman lesen. Es war allerdings ein merkwürdiger Roman: Er besaß weder Anfang (es blieb offen, warum die Helden ihre sonderbare Aufgabe übernahmen; später realisierte sie, dass in dem ersten Satz alles steckte, was man wissen musste) noch Schluss (die Mission wurde nie zu Ende geführt).
Bald war ihr die Story klar: Die Helden, Mitglieder des »Ordens«, der »Bruderschaft« oder der »Gesellschaft«, verfolgten ein geheimnisvolles Wesen, das sie als »Der Spion« bezeichneten, über den ganzen Erdball. Ihre Anweisung war unmissverständlich: Sie sollten ihn töten. Etwas ungeheuer Wichtiges musste von diesem Tod abhängen; was, wurde nicht gesagt. (Manchmal schien es, als ob das Verbrechen des Spions in der Täuschung bestünde, darin, den Platz eines anderen eingenommen zu haben und vorzugeben, jemand zu sein, der er nicht war.)
Doch trotz dieser tapferen, aufrechten Helden, die sich ganz ihrer Aufgabe verschrieben hatten, entschlüpfte ihnen der Spion immer wie ein Aal. Im Verlauf der Lektüre fiel Nora noch eine andere Besonderheit auf. Die Helden mühten sich ab, scheiterten, machten anderen Platz, die alterten und starben, und schon kamen die nächsten; so wie bei einem Gefecht immer einer nach vorne eilte, um die Standarte des toten Soldaten aufzunehmen. Dem Spion hingegen konnte der Zahn der Zeit nichts anhaben.
Er war unsterblich.
Es gab nur eine phantastische Beschreibung von ihm: Man schrieb ihm die Eigenschaften einer »Schlange mit Löwengesicht und blitzenden Augen« zu. An anderer Stelle hieß es, »verglichen mit seiner Mutter war er von hässlicher Gestalt«. Und an einer weiteren wurde betont, dass es sich um einen Bastard handelte, da er seinen Vater nie kennengelernt hatte.
Der Spion besaß außerdem die Option, zwölf verschiedene Gestalten annehmen zu können. Er konnte ein Mann sein oder eine Frau, ein Kind oder ein Greis, Asiat oder Schwarzer, ein Hüne oder ein Krüppel. Im mittelalterlichen Prag, hieß es in dem Buch, war er Rabbiner gewesen. In Italien Zofe am Hof der Borgia. Im Manchester der industriellen Revolution Besitzer von Kohleminen.
Wenn er in höchster Gefahr war, schlüpfte der Spion in ein neues Leben, und zwar im Moment der Empfängnis; auf diese Weise schüttelte er seine Verfolger ab, die gezwungen waren, einen Säugling unter vielen auszumachen. Er musste dazu lediglich eine Frau schwängern oder sich schwängern lassen, falls er gerade in einem weiblichen Körper steckte.
Es gab keine Informationen darüber, was sich in der Seele des Spions abspielte, solange er noch ein Säugling, ein Kind, ein Jugendlicher war: Wusste er die ganze Zeit über, wer er war, oder fand er es erst allmählich heraus? Ebenso wenig wurde darüber berichtet, was mit den verlassenen Körpern geschah, wenn der Spion in eine neue Hülle schlüpfte. War der Wechsel erst vollzogen, ließ auch die Erzählung sie hinter sich.
Als sie am Ende des Buches angelangt war, wusste Nora nicht, was sie damit anfangen sollte. Das Buch hatte sie unterhalten, aber sie konnte keine Verbindung zwischen Benet und dieser phantastischen Geschichte sehen. Sie hatte das Buch auf dem Wohnzimmertisch liegen lassen, wo Nadal einen Blick hineingeworfen hatte, und nahm sich vor, es zu vergessen, so wie sie auch den Henker, den Polizeichef und Van Upp vergessen wollte. Dessen Stimme klang ihr noch immer im Ohr; sie war überzeugt, sie an dem verhängnisvollen Abend im Regen gehört zu haben, er hatte ihren Namen gerufen und sie zu den Dünen geführt, zu der Tür, zu Benet.
Nora hatte noch nie jemanden
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