Der Spion der Zeit
Ich verstand, dass es Schmerz gab. Was ich nicht verstand, war die Intensität und die Dauer. Wir unterscheiden uns nicht sehr vom Tier, ich sagte es schon. Wenn Tiere ein Junges verlieren, leiden sie, aber bald schon leben sie weiter; es gibt keine Erinnerung, der Schmerz stirbt, wie das Junge. Lucas, sagte ich mir, war ein lebender Organismus, dessen Zyklus abgeschlossen ist. Er kam. Er ging. So wie ich gekommen bin und gehen werde. Das Leben geht weiter. Das Universum pulsiert wie gestern, wie auch weiterhin. Hat sich etwas Wesentliches verändert? Nein.
Und warum war dann da diese Hölle, die sich meines Geistes bemächtigt hat? Dieser mehr als körperliche Schmerz, diese elektrischen Funken an meinen Nervenenden? War das einfach nur die Erinnerung? Ich tat alles, um sie zu verbannen. Ich ließ mich von meiner Frau scheiden, denn alles an ihr sprach von Lucas. Ich zog in eine andere Wohnung, eine weiße Leinwand. Ich stürzte mich in die Arbeit und widmete ihr die gesamte Zeit, die ich wach war. Und ich erlitt Schiffbruch.
Ich war zum Schatten meiner selbst geworden, ein Trugbild von Carranza: jemand, der ihm ähnlich sah, der sprach wie er, der sein Wissen hatte … aber nicht er war. Ich stellte fest, dass ich zu Lucas’ Erinnerung zurückkehrte, ich eilte, stolperte zu ihm hin. Ich umarmte ihn. Es tat weh wie immer, wie im ersten Moment. Aber ich bereute es nicht.
In einem Moment der Verzweiflung griff ich auf die Bibel zurück. Ich hoffte weniger, Trost zu finden, als vielmehr Zündstoff für meine Wut. Ich war verblüfft. Als ich wahllos in den Texten las, unvoreingenommen, nicht dem Dogma verpflichtet, entdeckte ich einen Gott, der nichts mit dem gemein hatte, den die Exegeten beschreiben. Es handelte sich um ein einsames, neurotisches, orientierungsloses Wesen. Ein Wesen, das seine Geschöpfe mehr brauchte als sie es. Ein Wesen, in dem der Verdacht aufkeimte, dass ihm seine Geschöpfe trotz seiner Allmacht überlegen waren.
Dieser gewalttätige, unbändige, tyrannische Gott, dieser Gott, der das Herz des Menschen manipulierte und dann verschwand, dieser Gott, der ein ganzes Heer auslöschte, um zu demonstrieren, wie sehr er einen einzigen Menschen vorzog, wäre der nicht imstande, meinen Lucas zu rächen? Es war nicht völlig abwegig, über die Möglichkeit nachzudenken, dass Gott Bergen-Belsen, Treblinka, El Foso hätte verhindern können; de facto hatte er nicht nur größere Massaker zugelassen, sondern, ach, er hatte sie hervorgerufen. Dass er mit seinem Schweigen Völkermorde deckte und dann plötzlich auftauchte, um sich in eine kleinere Angelegenheit einzumischen, war nicht inkongruent, im Gegenteil, es entsprach der Logik, mit der der Gott der Bibel agiert.
Mir kam der Gedanke, dass die Mörder meines Sohnes nichts mehr in Angst und Schrecken versetzen würde, als wenn sie sich genau von dem verfolgt wähnten, den sie zu verehren glaubten. Es handelte sich nicht um eine menschliche Rache von gramgebeugten Überlebenden oder Sektierern, die daraus politisch Kapital schlagen wollten. Es würde sich um eine Macht handeln, die all den Mächten weit überlegen war, die sie sonst zu ihren Gunsten manipulierten. Sie würden der Verfolgung nicht entkommen können, denn wer kann sich schon vor Gottes Augen verstecken? All ihre Rechtfertigungen würden für null und nichtig erklärt, denn Er, der alles vermag, würde mit seinem Zeichen, seinem Stempel, seiner Signatur beweisen, dass er nicht auf ihrer Seite war.
Ich gebe zu, anfangs war es ein makabrer Scherz. Etwas, wozu ich imstande war. Ich weiß, wonach die Beamten bei einem Tatort suchen, ich kenne ihre Methoden, ihren Blick: Unsichtbar zu bleiben war mir also durchaus möglich. Und weil ich auch weiß, dass es ihnen bei der Interpretation an Phantasie mangelt, habe ich bei Ferrers Haus einen Kunstgriff angewandt: die mit Blut geschriebene Erklärung. Mit dem entsprechenden Reagenzmittel war sie einwandfrei zu lesen.
Doch all meine Bemühungen wären um ein Haar vergeblich gewesen. Ich konnte nicht ahnen, wie ungeschickt die Beamten auf allem herumtrampeln würden, fast hätten sie meine Botschaft komplett zerstört. Als ich dann in meiner Eigenschaft als Gerichtsmediziner an den Tatort zurückkehrte, war es zu spät. Zweimal war ich kurz davor, Kommissar X mit der Nase darauf zu stoßen, in welche Richtung er denken sollte, aber ich hielt mich beide Male zurück, ich wollte mein Glück nicht überstrapazieren.
Ich wollte die Scharade schon
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