Der Spion der Zeit
es noch eine Reihe von Daten, aus denen sich ein Profil erschließe. Es handle sich um die Leiche eines ehemaligen politischen Aktivisten aus dem sozialistischen Lager. Er habe im wahrsten Sinne des Wortes den Kopf verloren, als er mit Sprengstoff hantierte. Ich sagte ihm noch, der zuständige Beamte wüsste nichts von dem Zettel und ich hätte die Nummer nur gewählt, um zu sehen, ob sie korrekt sei. Ich könnte ihm noch mehr sagen, aber die Telefonleitungen wären nicht unbedingt diskret …
Er bestellte mich zu sich nach Hause.
Es war immer noch früh genug, einen Rückzieher zu machen. Wer könnte mir vorwerfen, ein Telefonat getätigt zu haben? Ich könnte so tun, als ob nichts geschehen wäre, und, wenn Ferrer sich an mich wenden würde, behaupten, ich sei es nicht gewesen, da habe jemand meinen Namen zu wer weiß welchen Zwecken benutzt.
Doch dieser erste Schritt hatte so gut geklappt. Es war verführerisch. Vielleicht könnte ich den zweiten wagen und, wenn nötig, mittendrin abbrechen, ohne größere Folgen befürchten zu müssen.
Ich ging zu dem Treffen. Meinen üblichen Koffer hatte ich dabei. Das einzig Außergewöhnliche war ein kleines Sprühfläschchen, das ich mit einem Gift gefüllt hatte, das die Mönche von Salerno im Mittelalter Sebrepticium nannten und dessen Rezept ich in einem uralten chinesischen Buch, dem Pen-ts’ ao kang-mu oder Großen Arzneibuch, gefunden hatte. (Eine Kopie des Buchs befindet sich in der Stadtbibliothek.) Das Gift lähmt die Atemwege und kann zum Tode führen. Ich stellte eine nicht so hoch dosierte Mischung her. Ich wollte es dafür verwenden, Ferrer kampfunfähig zu machen: Ich hatte das Sebrepticium gewählt, weil es sofort wirkt und die Wirkung lange anhält. Reines Sebrepticium ist bei einer Autopsie leicht zu entdecken: Es sammelt sich in einem Organ an und führt zu dessen völligem Zerfall; berührt man ein solches Organ, klingt es wie verkohltes Papier, das zerbröselt.
Ferrer öffnete mir persönlich die Tür. Er untersuchte mich auf Waffen. Er wurde nicht fündig, warnte mich aber, dass er sehr wohl bewaffnet sei.
Diese Machtdemonstration besiegelte seinen Tod. Ich hatte mir vorgenommen, ihn persönlich in Augenschein zu nehmen, um mir ein Bild davon zu machen, ob meine Absichten gerechtfertigt waren oder nicht: Ihm Aug in Aug gegenüberzustehen wäre die Wasserscheide. Und als ich vor ihm stand, überzeugte mich die spürbare Angst, sein Gestammel, das ständige Tasten nach der Waffe, das ihm ein wenig Sicherheit geben sollte, davon, dass sein Tod eine Erleichterung für die Menschheit wäre – sogar für ihn selbst. Ferrer hatte Angst, weil er erwartete, dass jemand kam, um ihn für seine Taten zur Rechenschaft zu ziehen. Seine Haltung war nicht die eines Menschen, der seine Schuld eingesteht, sondern eines Menschen, der anderen bis zum Ende Schaden zufügen will. Tötend wollte er diese Welt verlassen, so wie er gelebt hatte. Er schwitzte. So deutlich wie bei Ferrer habe ich noch nie das Ungeziefer gesehen, das sich unter der Haut des Menschen verbirgt.
Er führte mich in die Küche, ich fing an zu husten, hielt mir ein Taschentuch vor den Mund und sprühte ihm mit der anderen das Gift ins Gesicht. Er fiel sofort zu Boden. Ich schleppte ihn in den Garten. Die Hunde ließen mich in Ruhe: Sie mochten Ferrer genauso gern wie ich. Ich zog die Handschuhe an, suchte einen Eimer und zapfte ihm mit einer fast übernatürlichen Ruhe das Blut ab. Dafür benutzte ich die Arme, den Hals – ich hätte auch den Schenkel nehmen können, aber der war schwerer zugänglich. Ich war fast fertig, da stellte ich fest, dass einer der Hunde das Blut aus dem Eimer trank. Das brachte mich auf eine Idee. Ich verteilte den Inhalt der letzten Spritze auf den Stichwunden, die ich ihm beigebracht hatte. Es funktionierte. Den Eimer in der Hand trat ich zwei Schritte zurück, und der Hund schnüffelte an dem Blut auf dem Toten. Ein paar Zungenschlecker an der richtigen Stelle, ein von der göttlichen Vorsehung bestimmter Biss, und schon gäbe es keine Spuren mehr von den Einstichlöchern.
Die mit Blut geschriebene Botschaft war der Gnadenstoß.
Ich war nie ein religiöser Mensch. Die herkömmlichen Religionen entzünden meine Phantasie nicht. Ich bin Wissenschaftler, ich glaube an das, was ich sehe, und daran, dass ich mir das, was ich nicht sehen kann, vermittels meiner Urteilskraft zu erschließen weiß. Eine der Folgen von Lucas’ Tod war die Krise meines eigenen Glaubens.
Weitere Kostenlose Bücher