Der Spion der Zeit
Sonnenstrahl hinkommt. Sie müssen meinen Namen nicht verfluchen, das tue ich selbst gerade in diesem Augenblick, glücklich, dass dieser Ruch in meinem Samen keine Früchte mehr tragen wird.
Aber denken Sie an sie. An die Würdigen. An die, die Gewalt erlitten und ihr nur den Einspruch der Vernunft entgegengesetzt haben.
Könnte ich etwas für sie tun?
Können Sie etwas tun?
Können Sie?
XVIII
Van Upp bewegte seinen Hals, und es knackte verdächtig. Wie lang hatte er dort gesessen, völlig in die Lektüre versunken, als gäbe es keine Welt außerhalb von Carranzas Zeilen? Der Zug rollte weiter über die Gleise. Zwischen den Seiten und der verschneiten Landschaft existierten keine Übergänge: Das gesamte Universum bestand aus Schnörkeln auf weißem Grund. Ein paar Sitze weiter vorn spielte eine Frau aus Lappland mit ihrem Kind. Sie zeigte ihm, wie man mit Hilfe von zwei Stäben Kunststücke mit einem Holzring vollbringen kann.
Nichts von dem, was er gelesen hatte, hatte ihn überrascht. Der Gedanke, dass es sich um jemanden aus den eigenen Reihen handeln könnte, aus dem Polizeipräsidium oder von den übrigen Sicherheitskräften, war ihm sofort gekommen, als er von dem Fall gehört hatte. Es musste jemand sein, der wusste, wie man sich an einem Tatort bewegt, ohne Spuren zu hinterlassen. Außerdem legte die Ausführung der Morde (das eine Opfer ausbluten lassen, das andere in Salzwasser ertränken, ohne dass es irgendwelche Kampfspuren gab) nahe, dass derjenige sich mit chemischen Substanzen auskannte und damit umgehen konnte, wie im Fall des Narkotikums, das verwendet worden war, um die Opfer kampfunfähig zu machen.
In den ersten Stunden hatte er sich geweigert, Carranza als Verdächtigen in Betracht zu ziehen. Sein Freund war ein gebildeter Mann mit tadellosem Auftreten, der sich beruflich dem Ideal der Perfektion verschrieben hatte und der nie (vielleicht gerade deshalb) etwas mit den Mauscheleien und der Korruption der Politik zu tun gehabt hatte. Aber nach und nach erwiesen sich die Beweise als unwiderlegbar. Auch er hatte im Parkhaus des Polizeipräsidiums auf das Geständnis gewartet. Das Thema hatte ihn derart bedrückt, dass ihm – so musste er gestehen – das Zitat aus dem Hamlet entgangen war. Es war treffend; es beschrieb genau seinen Seelenzustand in jenem Moment. Van Upp versuchte Zeit zu gewinnen, um zu entscheiden, was zu tun war, wie er seinen Freund retten konnte.
Da geschah der Selbstmord, und Nora erzählte ihm von Lucas’ Schicksal. Das traf ihn unvermutet. In seiner Weltabgeschiedenheit hatte Van Upp nicht geglaubt, dass es einen anderen Grund für die Verbrechen geben könnte als die Tatsache, dass die Prätorianer eben waren, wer sie waren. Er selbst hätte sich am liebsten auf sie gestürzt, als er sie persönlich vor sich sah. Sich diesem Ausmaß an leibhaftiger Gewalt gegenüberzusehen, machte ihn krank. Sein Magen rebellierte, er konnte nichts mehr bei sich behalten. Er hatte sogar Angst zu blinzeln: Immer wenn er die Augen schloss, stürzte er in einen Abgrund.
Während seine Kollegen mit ihrem Kummer kämpften, überprüfte Van Upp Carranzas letzte Schritte. (Was natürlich dafür sorgte, dass man ihn mit noch größerem Befremden ansah; wenn es noch eines Beweises bedurfte, dass Van Upp ein gefühlloser Mensch war, so hatte man ihn nun gefunden.) Er nahm Carranzas Büro auseinander, ohne fündig zu werden. Er ging die Autopsieberichte Punkt für Punkt durch und stutzte bei Prades’ zerfallener Leber. (Dem letzten medizinischen Bericht zufolge war Prades kerngesund gewesen für sein Alter.) Genaueres fand er nicht heraus, er erntete nur die wütenden Blicke der Kollegen, die glaubten, er wolle das Andenken des toten Freundes beschmutzen.
Und so gelangte er zu Carranza nach Hause. Hätte er es nur vorher zu Gesicht bekommen …
In den letzten Monaten hatte Carranza in einem Hotelzimmer gewohnt. Ein Blick in die Räumlichkeiten genügte, um festzustellen, dass ihn nicht mehr viel mit dem Leben verband. Ein paar Kleidungsstücke, eine Flasche Absinth (dieselbe, die Van Upp mit nach Dänemark genommen hatte), Seife, ein Rasiermesser, ein Kamm. Kaum persönliche Gegenstände. Ein Bilderrahmen mit einem Foto von Lucas als Kind, in dem ein Umschlag steckte: Darin fand er eine blonde Haarsträhne. Eine Streichholzschachtel, aber keine einzige Zigarette. Ein Exemplar von Arturos Tod. (Sehr abgegriffen; Van Upp dachte, dass er Lucas die Geschichte bestimmt unzählige Male vor
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