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Der Spion und der Analytiker

Der Spion und der Analytiker

Titel: Der Spion und der Analytiker Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Liaty Pisani
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hinzu.
    »Ein gefährliches Spiel, für Kinder ebenso wie für Erwachsene.« Ogden schob sie sanft in das Eßzimmer. Der Tisch war mit einer Leinendecke gedeckt. Silberbestecke und Kristallgläser funkelten im Widerschein zweier Kerzenleuchter.
    »Dieses Abendessen ist ein unverhofftes Geschenk«, sagte Ogden. Veronica hätte am liebsten auf ihn eingeschlagen, doch statt dessen lächelte sie mit jener heiteren, leicht stumpfsinnigen Miene, die ihrer Erfahrung nach den Männern so gut gefiel.
    »Das war das mindeste, was ich zum Dank für deine Gastfreundschaft tun konnte«, sagte sie in aufgesetzt förmlichem Ton. »Ich weiß nicht, was ich ohne dich gemacht hätte …«
    Er wußte ihre Schauspielerei zu schätzen. Die ganzen neun Jahre über hatte er die Leere gespürt, die ihr Fernsein, oder das Fernsein einer Person wie sie, in ihm hinterlassen hatte; andererseits hatte er tags zuvor kaum ihre Stimme erkannt. Trotzdem paßte diese gefügige Haltung ganz und gar nicht zu jener Veronica, die er noch vor wenigen Stunden im Sacher erlebt hatte.
    »Jetzt essen wir«, sagte er, während er ihr den Stuhl zurechtrückte. »Und dann erzählst du mir, was mit dir passiert ist.«
    Der Braten war hervorragend, und Ogden dankte im Geiste jenem Koch des Dienstes, der ihm erlaubte, in diesem Versteck ziemlich gut zu essen.
    Er sah mit Vergnügen, daß es Veronica schmeckte, und erinnerte sich dabei an jenes appetitlose Mädchen, das sich von fader Crème de volaille ernährt hatte.
    »Was hast du in all den Jahren gemacht, Veronica?«
    Der Nachtisch blieb ihr fast im Halse stecken.
    »Gelebt natürlich.«
    »Natürlich, aber wie?« beharrte er mit seinem ewigen Lächeln.
    Veronica hüstelte, sie hatte sich an der Crème verschluckt.
    »Wie soll ich denn gelebt haben?« fragte sie zurück, bereute aber sofort ihren Ausbruch. »Giulio starb, und ich habe weitergelebt. Am Anfang war das nicht leicht, ich konnte mich einfach nicht an den Gedanken gewöhnen, daß er nicht mehr da war. Ich nehme an, das geht allen so. Ich habe ihn fast darum beneidet, daß er anderswo war, ganz gewiß an einem besseren Ort …«
    »Ich wußte gar nicht, daß du religiös bist«, sagte Ogden.
    »Ich bin es ja auch gar nicht. Aber man muß ja nicht religiös sein, um sich ein angenehmeres Jenseits auszumalen.«
    Ogdens Miene wurde noch nachsichtiger, und Veronica bereute, etwas gesagt zu haben.
    »Vorerst sind wir aber noch im Diesseits«, sagte er und schenkte ihr Wein nach. »Das dürfen wir ja wohl nicht vergessen …«
    »Gewiß. Leider hänge ich nicht besonders am Leben …«
    Ogden blickte sie an.
    »Du hast sehr schmerzliche Erfahrungen gemacht, aber es gibt ja auch noch anderes im Leben.«
    »Vielleicht«, räumte sie mit einem Lächeln ein, das ihren Worten die Dramatik nehmen sollte. »Aber was mir zugedacht war, kann mich nicht gerade begeistern …«
    »Du bräuchtest nur in den Spiegel zu sehen, um den Beweis des Gegenteils zu haben«, sagte Ogden. »Aber es ist ganz typisch für beneidenswerte Menschen, daß sie sich oft nicht bewußt sind, wie gut es der Herrgott, du glaubst ja an ihn, mit ihnen gemeint hat.
    Erzähl mir von Giulio«, bat er dann, indem er das Thema so jäh wechselte, daß ihr keine Zeit zum Nachdenken blieb. Veronica schien aber nicht verwirrt, sie blickte ihn an, ohne ihn zu sehen, und antwortete wie zerstreut.
    »Giulio ist schon vor langer Zeit gestorben, aber mir kommt es vor, als sei es gestern gewesen. Ja, manchmal habe ich sogar das Gefühl, in jenem Zwischenstadium zu leben, das man durchmacht, bevor man erfährt, daß jemand von uns gegangen ist: alles ist bereits geschehen, aber wir wissen es noch nicht, also ist es so, als wäre es noch nicht geschehen.«
    Veronica bemerkte, daß er sie mit wachsender Aufmerksamkeit betrachtete, als habe er die qualvolle Unsicherheit erraten, die sie Vergangenheit und Gegenwart durcheinanderbringen ließ. Sie versuchte, sich zusammenzunehmen, er durfte nichts von ihrer Angst bemerken. Sie gab sich einen Ruck und erwiderte seinen Blick.
    »Wir sind ein gutes Beispiel für die Relativitätstheorie«, sagte sie. »Neun Jahre vorher, neun Jahre später, was ist das schon für ein Unterschied? Die Zeit existiert nicht …«
    Sie lachte, aber sie war sehr blaß geworden.
    »Aber sie existiert eben doch«, fuhr sie gequält fort, als müßte sie eine Niederlage eingestehen. »Wenn Julia im richtigen Augenblick erwacht wäre, hätte sich Romeo nicht umgebracht, und infolgedessen auch

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