Der Spion und der Analytiker
fragte das junge Mädchen am Schalter.
»Nein, nur Handgepäck.«
»Flug 325. In einer halben Stunde können Sie an Bord. Flugsteig zwei. Ihr Name bitte?«
»Lasko. Alma Lasko.«
Sie nahm dem jungen Mädchen das Flugticket aus der Hand und lief schnell weg. Sie betrat die Toilette, wendete ihren doppelseitigen Regenmantel und kämmte ihre Haare nach hinten, wobei sie sie ein wenig anfeuchtete, damit die neue Frisur hielt; dann setzte sie die dunkle Brille auf. Sie betrachtete sich im Spiegel und war ganz zufrieden mit dem Ergebnis.
Nach der anfänglichen Aufregung war sie jetzt erstaunlich ruhig; das Ganze war wie ein Räuber-und-Gendarm-Spiel, nur daß nicht ganz klar war, wer hier eigentlich Räuber und wer Gendarm war.
Nachdem sie die Toilette verlassen hatte, wandte sie sich den Schaltern für internationale Flüge zu. Auf der Rolltreppe fühlte sie sich beobachtet, und als sie wieder auf sicherem Boden stand, zögerte sie. Dann studierte sie noch einmal die internationale Abflugtafel; in einer Viertelstunde gab es einen Flug nach Mailand. Sie hastete an den entsprechenden Flugschalter.
»Ein Ticket für Flug 737 bitte.«
»Gerade noch im letzten Augenblick«, sagte der junge Mann am Schalter. »Haben Sie Gepäck?«
Veronica schüttelte den Kopf und streckte ihm ihren alten Paß hin. Er nahm den Ausweis entgegen und füllte das Ticket auf den Namen Veronica Mantero aus, dann gab er ihn zurück.
»Hier bitte, Flugsteig fünf. Beeilen Sie sich.«
Sie passierte den Zoll wie eine Schlafwandlerin und umschloß dabei ihren alten Paß fest mit den Händen. Sie kümmerte sich jetzt nicht mehr darum, ob sie verfolgt wurde; wenn jemand sie umbringen wollte, hatte er bereits tausend Gelegenheiten ungenutzt verstreichen lassen, es gab also vielleicht doch eine Chance, daß die Abrechnung noch nicht so schnell erfolgte.
Am Flugsteig sah sie keinen der wartenden Passagiere an, sondern setzte sich mit gesenktem Kopf, bis die Stewardeß die Glastür aufmachte und die Fluggäste in den Bus einstiegen. Wenige Minuten später waren sie an Bord. Veronica schnallte den Sicherheitsgurt an und warf einen Blick auf die Reisenden neben ihr. Auf der einen Seite saß ein Mann, der die Finanzseite der »Times« las; auf dem Fensterplatz saß eine alte Frau.
Veronica stellte ihre Tasche unter den Sitz; sie lehnte sich zurück und versuchte, während das Flugzeug auf die Rollbahn fuhr, nicht daran zu denken, daß sie in wenigen Minuten von der Erde abheben würden.
Ich kehre nach Hause zurück, dachte sie, und die Wiener Jahre erschienen ihr nun wie ein langes Zwischenspiel, von dem sie jetzt immer mehr abrückte, auf die gleiche Weise, wie sich auch das Flugzeug immer mehr von Österreich entfernte.
Sie steckte eine Hand in die Tasche und berührte den Schlüsselbund. Was auch immer Laskos Schließfach enthielt, es war in Wien geblieben, wie alles andere auch. Das redete sie sich ein, um sich eine Pause zu gönnen, zumindest bis das Flugzeug landete.
Auch mit Lasko ist es zu Ende, und gleichzeitig mit meiner ganzen Familie, dachte sie und wunderte sich darüber, denn sie hatte immer eine etwas undeutliche Vorstellung von einer Familie gehabt: eine Familie hatte in ihrem Leben nie mehr als zwei Personen umfaßt. Guthrie hatte einmal bei einer Sitzung zu ihr gesagt, daß sie noch den Tod ihrer Eltern verarbeiten müsse. Diese Behauptung war ihr etwas gewagt erschienen, weil sie sich kaum an sie erinnern konnte, an diese zwei Personen inmitten einer Menge von Gepäckstücken und Geschenken, fast immer auf Abreise oder gerade von einer Reise zurückgekehrt, wobei die Geschenke zum Glück dablieben, auch wenn sie wieder abreisten. Bis dann eines Tages diese Reisen ein Ende nahmen, und damit auch die Geschenke, und sie die beiden nie wiedersah.
Aber das war nicht die Trauerarbeit, die sie, um Guthrie zu zitieren, nicht geleistet hatte. Oder vielleicht doch, wenn man mangelnde Trauerarbeit mit Gleichgültigkeit gleichsetzte. Sie waren einfach gestorben, und sie konnte sich nicht erinnern, wegen dieser endgültigen Trennung gelitten zu haben.
Der Mann neben ihr redete auf sie ein.
»Stört es Sie, wenn ich rauche?«
Veronica wandte sich ihm zu. Er war elegant, braungebrannt, ziemlich attraktiv.
»Nein, bitte. Außerdem ist dies ein Raucherplatz«, erklärte sie, indem sie auf das Schild am Vordersitz deutete.
Der Mann sah sie aus seinen Augen, die eine undefinierbare Tönung zwischen bernsteinfarben und grün hatten, aufmerksam
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