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Der Spion und der Analytiker

Der Spion und der Analytiker

Titel: Der Spion und der Analytiker Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Liaty Pisani
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der Nacht noch trotzt, aber den Tag schon verabschiedet hat. Der Glockenturm aus Ziegelsteinen am Ende der Straße leuchtete im Widerschein der untergehenden Sonne. Sie betrachtete das Schauspiel lange und empfand nicht einmal Wehmut, als sie sah, daß die Sonnenstrahlen genau wie damals auf die Kirche fielen und sie rot färbten. Überhaupt gab es keinen Augenblick ihres Lebens, dem sie nachtrauerte, alles war so mühsam, so teuer bezahlt gewesen. Die einzige Ausnahme war vielleicht ein Sommermorgen in Chelsea gewesen: damals mit neunzehn hatte sie sich so frei gefühlt wie später nie mehr in ihrem Leben. Dieses Erlebnis hatte sie aber auch gelehrt, jedem unmotivierten Glücksgefühl zu mißtrauen: es war wie ein Schwanengesang vor der Tragödie gewesen. Danach war sie nie mehr einfach so grundlos glücklich gewesen, umgekehrt hatte sie aber auch keinen Grund mehr gehabt, glücklich zu sein. So war sie der Falle ausgewichen.
    Sie blickte sich im Zimmer um, es war geschmackvoll eingerichtet, die modernen Möbel erinnerten sie an jenes Genfer Hotel, in dem sie stundenlang, tagelang auf Nachricht gewartet hatte, ob Giulio weiterleben würde. Seither war Warten für sie unerträglich geworden; auf jemanden oder auf etwas warten zu müssen, und sei es auf einen Geliebten oder auf eine Freundin, aber auch nur auf den Briefträger, empfand sie wie eine Vergewaltigung.
    Jene ewig Reisenden, die – ständig mit dem Koffer in der Hand – über ihre Kindheit klagten, weil sie an einem einzigen Ort festgenagelt gewesen waren und das Umzugsauto immer nur vor dem Haus der anderen stehen sahen, waren ihr unsympathisch. Bei jedem neuen Umzug hatte ein Teil von ihr seinen Bestimmungsort nicht erreicht: Liebesobjekte – so durfte man sie wohl nennen – waren dabei verlorengegangen oder für immer zerstört worden. Ihr Leben hatte immer nur im Zeichen von Umzugsfirmen gestanden.
    Bei jeder Ortsveränderung war es von Kindheit an immer das gleiche gewesen: man zog nicht deshalb an einen anderen Ort, weil man etwas Besseres suchte, sondern weil man gezwungen war, anderswo von vorn anzufangen.
    Auch jetzt war es so, nur daß sie diesmal weder wußte, wo, noch womit sie neu anfangen sollte, das Umzugsauto stand nicht vor ihrer Tür. Am liebsten hätte sie eine Zeitmaschine gehabt, um die Zeit zurückdrehen und ihr Leben ändern zu können. Science-fiction-Autoren wußten wenigstens, worauf es ankam, dachte sie, während sie sich vom Fenster entfernte.
    Sie hatte keine Ahnung, was sie in unmittelbarer Zukunft tun würde, außer daß sie vielleicht, wenn es dafür Zeit wäre, zum Abendessen ins Hotelrestaurant gehen würde. Jetzt war es noch zu früh. Nachdem sie aus dem Taxi ausgestiegen war, hatte sie zuerst die Metro genommen und war dann mit verschiedenen Bussen mindestens eine Stunde lang herumgefahren, bis sie todmüde in dem Hotel anlangte. In ihrem Zimmer hatte sie sich gleich aufs Bett geworfen und war sofort eingeschlafen.
    Sie sah auf die Uhr, es war sieben Uhr abends. Sie hätte sich etwas zum Anziehen kaufen sollen, hatte aber Angst, beim Hinausgehen auf den Mann mit dem Mercedes zu treffen.
    Sie trat ans Fenster und sah auf die Straße hinaus. Neben dem Blumengeschäft entdeckte sie eine Boutique, und das erleichterte ihr den Entschluß. Sie band ein Kopftuch um, setzte die dunkle Brille auf und betrachtete im Spiegel diese Frau im gegürteten Regenmantel, deren Haar und Augen bedeckt waren, und fand sie lächerlich.
    An der Rezeption bekam sie ihren Paß zurück, sie steckte ihn neben den der Alma Lasko in die Handtasche und verließ das Hotel. Sie ging am Schaufenster ihres ehemaligen Juweliers, dann an der Buchhandlung vorbei, in der sie so viele Bücher gekauft hatte. Dann überquerte sie die Straße; neben der Boutique war ein Friseur, daher verschob sie den Kleiderkauf und betrat den Salon.
    Sie schnitten ihr die Haare sehr kurz und färbten sie dann im Ton von Herbstlaub. Als das Werk vollendet war, bedauerte Veronica, daß man ihren Kopf nicht auch von innen bearbeitet hatte. Aber jemand hatte das bereits getan.
    Sie betrachtete sich im Spiegel, die jungen Haarkünstler lächelten zufrieden. Auch sie lächelte dem Verschönerungsteam und der Unbekannten zu, die sie aus dem Spiegel ansah.
    Sie fand sich schön. Das war wichtig, wenigstens häßlich sollte sie nicht werden, wenigstens das nicht …
    Nachdem sie am Flughafen einige Zeit am Hertz-Schalter vergeudet hatten, erreichten Guthrie und Ogden das Carlton, ein

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