Der Spion und der Analytiker
Nummer.
Unwahrscheinlich, daß jemand während der Nacht angerufen hatte, trotzdem versuchte er es, als wollte er sich selber beweisen, daß die Brücken zu seiner Vergangenheit noch nicht abgebrochen waren.
Es hatte aber doch jemand angerufen, allerdings ohne eine Nachricht zu hinterlassen. Das Tonband war abgelaufen, der automatische Anrufbeantworter gab seinen abschließenden Pfeifton von sich. Guthrie hängte ein und spürte dabei genau jenes Verlassenheitsgefühl, das er abzuwenden versucht hatte.
Er ruhte sich aus, während seine Gedanken jene unglaublichen letzten Tage umkreisten. Schließlich läutete das Telefon. Es war Ogden, der aus seinem Zimmer anrief.
»Ich bin in fünf Minuten bei Ihnen«, sagte er kurz angebunden, »ich hoffe, daß Sie sich etwas ausgeruht haben.«
Guthrie nahm die schnellste Dusche seines Lebens; als er gerade mit dem Anziehen fertig war, klopfte Ogden an die Tür.
»Wir müssen über Veronica reden«, sagte der Agent, setzte sich aufs Bett und blickte ihn an.
»Richtig«, stimmte Guthrie zu. »Sie scheinen sich in meine Patientin verliebt zu haben …«
Ogden hob den Kopf und sah ihn verdutzt an.
»Damals war sie noch nicht Ihre Patientin.«
»Stimmt«, räumte Guthrie ein, »aber Sie haben sich auch in Alma verliebt, und Alma ist meine Patientin. Früher oder später tut man immer das, was man so sorgfältig zu vermeiden sucht. Vor neun Jahren haben Sie sich dagegen verwahrt, sie zu lieben, und auf diese Weise ein sehr starkes Gefühl erstickt, dabei aber zuviel Energie akkumuliert. Wenn Sie diese Frau nicht wiederfinden, explodieren Sie …«
Ogden war ans Fenster getreten und hatte die Vorhänge beiseite geschoben. Er blickte einen Augenblick lang auf die von der Straßenbeleuchtung erhellte Straße hinaus, dann wandte er sich um und sah Guthrie spöttisch an.
»Mag sein, aber unsere Lage ist dadurch nicht viel besser. Auch Sie haben etwas ausgelassen: die Wirklichkeit Ihrer Patientin. Wenn ihr etwas passiert, explodieren auch Sie, da bin ich sicher.«
»Sie wissen über Dinge Bescheid, von denen mir nichts bekannt ist …«
»Etwas schwach als Entschuldigung. Aber es stimmt, während Sie schliefen, habe ich Franz ausgequetscht. Hier«, sagte er und streckte Guthrie ein Blatt Papier entgegen, »dies sind die Wirklichkeitsdaten, die Ihnen gefehlt haben: das Leben der Veronica Mantero in Italien, bevor sie Lasko heiratete. Aber darauf kommt es jetzt gar nicht so an …«
Guthrie ergriff das Blatt und las. Als er fertig war, fühlte er sich todmüde. Ogden beobachtete ihn abwartend.
»Entscheidend ist«, sagte Guthrie wütend, »daß man das Leben nicht einfach außer acht lassen kann. Entscheidend ist die Tatsache«, wiederholte er nun schon ruhiger, »daß die Verletzungen oft nicht geheilt werden können, obwohl wir oft glauben, daß dies möglich ist; und dann sind wir so berauscht von Theorie und Technik, daß wir auf die Wirklichkeit weniger achten. Die Instrumente rufen immer eine Wirkung hervor«, fuhr er fort. »Dann setzt sich der Fehler fest, und das Problem wird unlösbar gerade dann, wenn wir uns einbilden, es gelöst zu haben. Verstehen Sie mich nicht falsch, es gelingt uns trotzdem oft, jemandem auf die Füße zu helfen, der dachte, sein Leben lang auf Krücken gehen zu müssen. Aber es ist nicht immer möglich, und wir sollten das ein für alle mal zugeben.«
Ogden war betroffen von so viel Bitterkeit.
»Ich wollte Sie nicht herausfordern«, sagte er. »Und im übrigen, wer ohne Sünde ist, werfe den ersten Stein. Jedenfalls haben wir versagt, vielleicht nicht aus eigener Schuld, aber dies ist das Ergebnis. Seltsamerweise müssen wir uns jetzt beide auf ein Spiel einlassen, das unserer Rolle widerspricht: ich, ein Spion, muß mich zu erkennen geben; Sie, ein Psychoanalytiker, müssen handeln, anstatt aus der Distanz zu begreifen. Wenn das nur nicht eine ungeheure Identitätskrise zur Folge hat.«
»Wir stehen nicht vor einer Identitätskrise«, sagte Guthrie bitter, »wir stecken drin bis zum Halse. Jetzt bleibt uns wahrscheinlich nur noch das Handeln, ohne allzuviel nachzudenken.«
»Sie sind der Schamane«, sagte Ogden. »Wo meinen Sie, würde Veronica ihr Vorbewußtsein suchen?«
»In Italien«, sagte Guthrie ohne Zögern, »im Umfeld ihres vergangenen Lebens. Wenn du nicht mehr nach vorne kannst, dann gehst du zurück.«
Es war schon später Vormittag, als sie in Guthries Haus zurückkehrten. Sie trafen Grete an, die gerade beim
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