Der Spitzenkandidat - Roman
Wirtschaftsredaktion liegen Informationen vor, wonach der designierte Ministerpräsident und ermordete Politiker Uwe Stein, im Fall seiner Wahl Aufsichtsratsvorsitzender bei der Tawes AG, entsprechende Sanierungspläne mitgetragen hätte
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Der Politiker wurde Anfang des Monats erschlagen. Vom Täter fehlt nach wie vor jede Spur. Der von der Bürgerpartei ernannte neue Spitzenkandidat und Parteivorsitzende Alfred Bitter soll gegenüber dem Aufsichtsrat der Deutschen Antriebstechnik signalisiert haben, dass mit ihm Arbeitsplatzverlagerungen von Hannover an andere Standorte nicht zu machen seien. Auf Nachfrage war Bitter zu keiner Stellungnahme bereit. Dr. Jahn nannte als Grund für die am Wochenende getroffene Entscheidung, dass die Deutsche Antriebstechnik sich verstärkt um den asiatischen Markt kümmern wolle und Investments in Indonesien und Korea plane
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Allgemeine Zeitung, 8. September 2011
Marion Klaßen hatte noch keine Gelegenheit gehabt, die Samstagausgaben der Tageszeitungen, die sie abonniert hatte, zu lesen. Die Reisevorbereitungen hatten ihr keine Zeit gelassen. 1000 Kilometer Autobahn lagen vor ihr. Sonntags sollten ihr Lastwagen eigentlich erspart bleiben, doch es schien von Monat zu Monat mehr Ausnahmegenehmigungen zu geben. Und immer mehr Sonntagsfahrer. Nur die Zahl der Radiosender mit pubertären Moderatoren und aktuellen Hits war seit Jahren gleichbleibend hoch. Sie passte sich dem Verkehrsfluss an und fuhr keine Rennen. 125 PS reichten aus, um zügig über die Mittelgebirge zu kommen. Unterwegs legte sie zwei Stopps ein und suchte Toiletten auf, die gepflegter waren als in ihrem Appartement in Celle. Bis Stuttgart kam sie glatt durch, dann zerstörte ein Stau den Durchschnitt. Marion Klaßen ärgerte sich. Es würde Sinn machen, am Ende eines Lebens die vielen nutzlos in Staus auf deutschen Autobahnen verbrachten Stunden aufzuaddieren, dachte sie. Vermutlich war die Zahl, die am Ende herauskam, höher als die Stunden, die sie beim Kochen oder im Theater verbracht hatte.
In den Nachrichten tauchte kein einziges Mal der Name Uwe Stein auf. Die Halbwertszeit sensationeller Nachrichten wurde immer kürzer. Es war nach 22 Uhr, als sie die Grenze nach Liechtenstein überquerte, der lustlos wirkende Grenzbeamte winkte sie durch. Anders als an den meisten anderen Grenzen wurde der Übergang kontrolliert, um Steuersünder dingfest zu machen. Auf der Rückfahrt würde man sie vermutlich nicht einfach durchwinken. Aber sie hatte ja ihren Dienstausweis, der sie als Landtagsabgeordnete auswies, die durch Immunität geschützt war.
Das Hotel, übers Internet gebucht, ließ alles vermissen, was sie sich von drei Sternen und den Fotos versprochen hatte. Alles wirkte abgewetzt, lieblos, grau, der Mann am Empfang war obendrein müde. Die Küche hatte seit 21 Uhr geschlossen, die von der Stallwache empfohlenen Erdnüsse auf dem Zimmer fehlten. In ihrer Reisetasche entdeckte Marion einen Schokoladenriegel vom letzten Urlaub. Ranzig, aber essbar. Schlaf fand sie keinen, obwohl sie erschöpft war. Als sie zuletzt resigniert auf den Wecker blickte, war es drei Uhr. Das Handy klingelte um sieben.
Er hieß Pflümli, war korpulent und erfüllte auch sonst viele Klischees eines redlichen alpenländischen Beamten. Weil er sich kollegial verhielt und für nie nachlassenden Nachschub an Kaffee und Gebäck sorgte, hatte Marion nichts auszusetzen. Der Leiter des Schulamtes in Vaduz pries sein Schulsystem in den höchsten Tönen. Fast jeder Satz begann mit „Ich als zuständiger Gemeinderat für das Bildungswesen …“
Er wusste um die deutschen Verhältnisse bei Bildung und Ausbildung bis zurück ins 19. Jahrhundert. Er kannte auch die PISA-Zahlen und den deutschen Föderalismus mit 16 Kultusministerien und Schulverwaltungen. Marion Klaßen machte Notizen, stellte Fragen, berichtete über die Lage in ihrer Heimat. Zeitweise hatte sie das Gefühl, sich auf einer echten Dienstreise zu befinden. Natürlich war Pflümli über den Mord an Uwe Stein informiert und ließ es an Bedauern nicht fehlen. An Neugier auch nicht.
Um Viertel vor zwölf betrat sie das Bankhaus Vaduz. Sie nannte die Nummer des Depots sowie das Kennwort und legte Isabel Steins Vollmacht vor.
Im Schließfach, das Uwe Stein angemietet hatte, befanden sich ein mit Klebeband verschlossener DIN-A-4-Umschlag und ein Paket. Sie nahm beides an sich, quittierte den Empfang und verließ die Bank. Kein überflüssiger Satz, keine Bemerkung über das Wetter, die
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