Der Spitzenkandidat - Roman
Liechtensteiner Bankangestellten kannten die Bedürfnisse ihrer Kunden. Gespräche übers Wetter gehörten nicht dazu. Im Auto öffnete sie den Umschlag. Er enthielt Auszüge von Depots: ein Aktiendepot, ein Asia-Fonds, ein Rohstoff-Fonds. Der aktuelle Gesamtwert betrug mehr als 1,3 Millionen Euro. Das Päckchen enthielt säuberlich gebündelte 500-Euro-Scheine, alles in allem etwa 200.000 Euro. Marion fragte sich, was Uwe mit so viel Geld vorgehabt hatte. Die Aktien und Investmentfonds konnten bei jeder Bank eingelöst werden. In Deutschland besser nicht, aber die Entscheidung stand später an.
Die Rückfahrt verlief ohne Probleme. Sie zeigte den Beamten an der Grenze ihren Abgeordnetenausweis und nannte den Namen des Gemeinderatsmitgliedes Pflümli. Man winkte sie durch. Celle erreichte sie gegen Mitternacht. Am Bahnhof mietete sie ein Schließfach, in dem Geld und Umschlag Platz fanden.
Im Briefkasten lag neben Reklame ein nicht adressierter Umschlag, der ein Foto enthielt, aufgenommen mit einer Digitalkamera. Der Mann sah entsetzlich aus, blutüberströmt lag er auf einem Fußboden aus Stein, vielleicht auch auf einem Bürgersteig. Pinos Leute hatten ganze Arbeit geleistet. Ob er tot war? Vermutlich ja, es ging sie nichts an. Er war ein gemeiner Erpresser, vermutlich sogar Uwes Mörder, er hatte nichts Besseres verdient. Sie zerriss das Foto in winzige Schnipsel und verbrannte alles mit den Zeitungen der letzten Tage im Kamin.
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Deals mit der Justiz brachten den Rechtsanwalt Hackmann schon lange nicht mehr aus dem Gleichgewicht. In seiner langen Tätigkeit als Fachanwalt für Steuerrecht hatte er Sachen erlebt, die jeden gesetzestreuen Bürger schockiert hätten. Doch gesetzestreue Bürger erfuhren nichts von diesen Deals. Die Absprachen, die Hackmanns Kanzlei regelmäßig mit den Justizbehörden traf, enthielten als einen der wichtigsten Punkte wechselseitiges Stillschweigen. Diese Regel war notwendig, um den gesellschaftlichen Konsens in Deutschland nicht aufs Spiel zu setzen. Ein durchschnittlicher Bürger musste mit harten Sanktionen rechnen, wenn er sich im Straßenverkehr falsch verhielt, schwarz öffentliche Verkehrsmittel benutzte oder am Arbeitsplatz einen Bleistift oder eine Frikadelle entwendete. Ihn traf die volle Härte des Gesetzes, er konnte sogar ins Gefängnis kommen oder arbeitslos werden. Steuersünder, die mehrere Millionen am Staat vorbei auf Auslandskonten deponiert hatten, durften dagegen mit Entgegenkommen rechnen. Wer bereit war, seine Steuerschulden zu erstatten und zusätzlich eine Geldstrafe in den Staatssäckel einzuzahlen, konnte davon ausgehen, dass seine Akten geschlossen wurden. Manchmal dachte er: Es ist nicht in Ordnung, das Messen mit zweierlei Maß. Der geschäftsmäßige Teil in ihm überwog. Es war nicht sein Job, Moralapostel zu spielen. Er war Fachanwalt für Steuerrecht.
Obwohl er viele Dutzend Deals mit staatlichen Behörden getroffen hatte, war er dennoch überrascht, mit welcher Nonchalance die Angelegenheit Isabel Stein niedergeschlagen worden war. Nicht, dass er es der Witwe nicht gönnte. Komisch war es trotzdem. Ein versuchter Giftmord war ein Kapitalverbrechen, man konnte es drehen und wenden, wie man wollte. In solchen Fällen griff jeder Staatsanwalt hart durch, Notwehr hin oder her. Hackmann hatte fest damit gerechnet, dass Isabel mit Anklage und Bewährungsstrafe rechnen musste. Nun hatte ein Deal stattgefunden, der mit der Angelegenheit befasste Kollege Janssen hüllte sich in vielsagendes Schweigen.
Und dann das merkwürdige Verhalten von Isabel Stein gestern Nachmittag. Als er sie angerufen hatte, um sie im Namen seiner frisch angetrauten Frau, die er im Zuge der Staatskanzleimorde kennengelernt hatte, zum Kaffee einzuladen, war sie kurz angebunden gewesen und hatte gehetzt geklungen. Und nicht nur das, in ihrer Stimme hatte unverkennbar Angst mitgeschwungen. Wovor oder besser vor wem hatte Steins Witwe Angst? Die Einladung hatte sie ohne Begründung ausgeschlagen.
Und ein weiterer Punkt beschäftigte den Anwalt. Mehr als eine Woche nach dem Mord schien die Polizei bei den Ermittlungen immer noch keine Fortschritte zu machen. War das möglich? Bei einem Verbrechen, das bundesweit und international für Aufsehen gesorgt hatte? Gab es im Zusammenhang mit Uwe Stein etwas, das vertuscht werden sollte? Hackmann ließ die Erinnerung an diesen Russen nicht los, damals, als Stein noch sein Kollege gewesen war. Dieser dubiose Mann mit Verbindungen nach
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