Der Spitzenkandidat - Roman
drei Wochen vor der Landtagswahl hat der Spitzenkandidat der Bürgerpartei und designierte Ministerpräsident sein Regierungsprogramm für die ersten hundert Tage vorgestellt. Den aktuellen Umfragen zufolge wird Alfred Bitter zwar weniger Prozentpunkte einfahren als der frühere Spitzenkandidat Uwe Stein, die Regierungsmehrheit aber verteidigen können. Bitter setzt Schwerpunkte in der Handwerks- und Landwirtschaftspolitik. Vorgesehen ist außerdem eine Neuausrichtung der Wirtschaftsförderprogramme des Landes und die Einführung von Mittelstandslotsen, die den Unternehmen bei behördlichen Fragen zur Seite stehen. Künftig sollen auch mehr Mittel in die Förderung von kleinen und mittleren Unternehmen fließen und die Ausgaben für den Straßenbau zurückgefahren werden. Gerüchte, dass die Regierung nach der Wahl das dem Land gehörende Gelände der Kleingartenkolonie in Ricklingen an den Großinvestor Baumgart verkaufen will, verwies Bitter in das Reich der Fabeln. Ein weiterer Schwerpunkt werde der Ausbau der Polizeiarbeit sein. Die Präsenz der Polizei in den Städten und Gemeinden soll verstärkt werden, um dem wachsenden Sicherheitsbedürfnis der Menschen gerecht zu werden, erklärte der Spitzenkandidat. Zunächst sollen 500 neue Stellen im Polizeidienst geschaffen werden. Anders als von Stein geplant, ist die Einrichtung eines eigenständigen Frauenministeriums nicht mehr vorgesehen. In Parteikreisen hat dies für Unmut gesorgt, die Frauenorganisation unter der Leitung der Abgeordneten Peters besteht weiterhin auf einem Ministerium für Frauenbelange. Vertrauliche Quellen sprachen von einem drohenden Wahlboykott der Frauenorganisation. Zur Personalpolitik wollte Bitter keine näheren Angaben machen. Aus gut informierten Kreisen war zu erfahren, dass grundlegende personelle Veränderungen unter einer Regierung Bitters nicht zu erwarten sind. Vermutlich werden vorerst bis auf die Verkehrsministerin und den amtierenden Kultusminister, die aus Altersgründen ausscheiden, alle Minister im Amt bleiben. Erst im Lauf der Legislaturperiode ist eine Verjüngung des Kabinetts vorgesehen. Als neuer Kultusminister ist Bernd Schneider im Gespräch
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Was den Mord an Uwe Stein betrifft, wirft der Selbstmord von Sonja Schreiber ein neues Licht auf den Fall. Sonja Schreiber wird ein Verhältnis mit Uwe Stein nachgesagt. Sie soll zu dem engeren Kreis von Verdächtigen gehören. Wie das LKA auf Anfrage mitteilte, konnte der Verdacht nicht erhärtet werden. Die von der Polizei eingesetzten Mantrailer fanden keine Spuren von Frau Schreiber am Tatort. Zehn Tage nach dem schrecklichen Mord scheint die Polizei noch immer im Dunkeln zu tappen
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Allgemeine Niedersachsenzeitung, 11. September 2011
Als Boris gegen neun Uhr frühstückte, hatte er eine Entscheidung getroffen. Heute war der Tag, an dem das Geld fließen oder er die Kleine holen sollte. Oleg hatte sich noch immer nicht gemeldet und war über sein Handy nicht zu erreichen. Obwohl Oleg ihm befohlen hatte, die Kontaktaufnahme ausschließlich übers Handy zu vollziehen, rief Boris im Hotel Adlon an. Die Dame an der Rezeption fiel aus allen Wolken. Oleg Subkow, den könne er nicht sprechen. Weshalb nicht? Weil er tot sei. Sonntagnacht überfallen worden, die Zeitungen hätten berichtet. Verdammt noch mal, dachte Boris. Wenn ich doch bloß lesen könnte.
„Sind Sie ein Bekannter von Herrn Subkow? Dann sollten Sie dringend mit der Polizei sprechen. Sie sucht nach Leuten, die Herrn Subkow kannten. Die Täter sind bislang nicht gefasst.“
Boris legte auf. „Was soll jetzt bloß aus mir werden?“, war sein erster Gedanke. „Verdammte Scheiße, Oleg ist tot und seine Mörder laufen frei rum“, war sein zweiter Gedanke. Vermutlich hatten die Albaner zugeschlagen. Oleg hatte oft genug über sie geschimpft, wie sie Straße für Straße in Berlin eroberten, alles kontrollieren wollten. „Wäre schön, wenn die Polizei ein einziges Mal eingreifen würde“, hatte er sich gewünscht. „Aber sie hält sich zurück, wie man das nicht anders in diesem Land kennt.“
Scheiße, was sollte er tun? Ein Leben ohne Oleg war außerhalb seiner Vorstellungswelt. Wie sollte er alleine klarkommen? In Zürich würde er nicht bleiben. Er hatte sich dort nie wohl gefühlt. Dann dachte er: Ich gehe zurück nach Moskau. Freunde hatte er dort auch nicht, aber zumindest konnte er sich verständlich machen, er war dort zu Hause. Doch vorher musste er nach Zürich, den Stahlschrank öffnen. Die
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