Der Spitzenkandidat - Roman
selbst die Cosa Nostra so fest an ihre politische Zukunft glaubte. Naheliegend war es, sie war jung und talentiert. Uwes Geld würde ihren Aufstieg beschleunigen. Wenn es dann soweit war, würden sie vor ihrer Tür stehen und ihre Bezahlung einfordern. Wann das wäre, vermochte niemand zu sagen: in fünf Jahren, in zehn oder vielleicht schon nächstes Jahr. Der Gedanke hätte viele in Panik versetzt, Marion jedoch nicht. In dieser Hinsicht war sie wie Uwe, auch er war mutig gewesen. Und bislang war sie mit allen Herausforderungen fertig geworden, sie würde auch diese meistern. Sie hatte keine Angst vor Pino und seiner Familie.
Und vielleicht waren die Gegenleistungen, die ihr abverlangt werden würden, kein wirkliches Drama. Eine Genehmigung für ein lukratives Großprojekt, eine begehrte Immobilie in Top-Lage, ein Deal mit den Justizbehörden für einen verurteilten Boss, Gefälligkeiten, die sie unbemerkt von der Öffentlichkeit hinter den Kulissen regeln würde. Warum sich jetzt den Kopf darüber zerbrechen?
55
Verena fand in dieser Nacht keinen Schlaf. Seit der Schlappe mit Sonja Schreiber ließ sie der Gedanke nicht los, dass der Mordfall Uwe Stein ungelöst in den Archiven des LKA landen würde. Sie hatte das Gefühl, nicht mehr Herrin des Geschehens zu sein. Sie dachte an die Interventionen des Innenministers und des Parteivorsitzenden: Beschränkten sie sich nur auf den Giftmordanschlag oder wurde längst auch auf die Ermittlungen im Mordfall selbst Einfluss genommen? Die ungewöhnlich harsche Reaktion auf ihre berechtigten Fragen nach dem geheimnisvollen Brief und dem russischen Geschäftsmann sprachen dafür. Gab es hinter verschlossenen Türen getroffene Absprachen, die die Aufklärung des Mordfalles behinderten, weil das Ergebnis nicht in die politische Landschaft passte? Spielten die Herren Jo-Jo mit ihr? Was hatte Stolli neulich noch gesagt: „Im Fall Uwe Barschel gab es starke Kräfte, die die Aufklärung des Mordfalles verhindert haben, hätte der Staatsanwalt behauptet.“ War es jetzt genauso? Möglich wäre es.
Sie nahm sich vor, die Leitung der Soko abzugeben, falls auch die Ermittlungen gegen Egon Schreiber ins Leere laufen sollten.
Jetzt saß sie in ihrem schäbigen Büro Stollmann gegenüber.
„Du bist auf dem falschen Dampfer“, murmelte Stollmann und atmete genüsslich den Duft seines Kaffees ein. „Riecht wie zu Hause“, sagte er verzückt. „Ich kann mich kaum noch daran erinnern, wie meine Ex-Gattin aussah. Aber wie es in der Wohnung roch, werde ich nie vergessen.“
„Das war Sauberkeit“, entgegnete Verena. „Das ist dieser Geruch, den du schon lange nicht mehr gerochen hast. Kann es sein, dass deine blutjunge Gespielin von dir in doppelter Hinsicht die Nase voll hatte?“
Stollmann bestimmte selbst, wann er sich provozieren ließ. Sein Erscheinungsbild war zum Davonlaufen, aber er hing nicht mehr so durch, er hatte die Affäre mit seiner blutjungen Geliebten weggesteckt. Vor allem stand er wieder als ernsthafter Gesprächspartner zur Verfügung.
„Es gibt mehrere Faktoren, die gegen Schreiber sprechen“, versuchte Verena es von Neuem. „Er hat schriftlich angekündigt, es Stein heimzuzahlen. Der Ton seiner Drohbriefe ließ an Deutlichkeit nichts zu wünschen übrig. Als verlassener Ehemann hatte er ein Motiv. Verletzte Eitelkeit, Hass, Rache, nenne es, wie du willst. Außerdem spielt er Golf. Und er hatte das jammervolle Bild seiner früheren Frau vor Augen. Er konnte sich einreden, dass Stein sie zu einem Häufchen Elend gemacht hat.“
„Hat er ja auch“, sagte Stollmann. „Aber Schreiber hat nicht mit Stein telefoniert, weder übers Festnetz noch übers Handy, jedenfalls nicht in den letzten sechs Monaten. Auch in seinen E-Mails haben wir nichts gefunden. Wie soll er sich mit Stein verabredet haben? Über Brieftauben?“
„Da ist noch der bislang nicht identifizierte Anrufer, der Stein kurz vor seinem Tod von einer Telefonzelle aus angerufen hat. Das muss mit dem Mord nichts zu tun haben, ich weiß. Könnte es, aber es könnte auch anders gewesen sein.“
Stollmann blickte sie erwartungsvoll an. In solchen Momenten mochte sie ihren Kollegen besonders. Er hatte keine Vorbehalte gegen Frauen und war ehrlich bemüht, ihre Gedankengänge nachzuvollziehen. Dabei hatte Verena es ihm in der Vergangenheit nicht immer leicht gemacht.
„Stein hat Wahlkampf geführt und hatte jeden Tag mehrere Auftritte in der Öffentlichkeit. Ich denke, Schreiber hat bei so einer
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