Der Spitzenkandidat - Roman
ganze Haus ist hellhörig. Wir können uns nicht beklagen, mein Mann und ich. Frau Schreiber ist eine ruhige Mieterin. Der Vormieter war die Hölle, jeden Abend Besucher, wenn sie nachts gegangen sind, hast du geglaubt, jetzt reißen sie das Haus ab.“
Verena stieg die Treppe hinauf, an der Wohnungstür klingelte sie anhaltend. In der Wohnung war es still. Sie ging nach unten, die alte Frau öffnete, bevor Verena klingeln konnte.
„Haben Sie vielleicht einen Schlüssel zu Frau Schreibers Wohnung? Sie öffnet nicht.“
Die Frau nickte eifrig. „Als Hausbesitzer steht uns das zu.“ Sie verschwand und kehrte mit einem Schlüsselbund zurück. Mühsam, von Pausen unterbrochen, stieg sie vor der Polizistin die Treppe hinauf. Als die Wohnungstür aufschwang, wusste Verena Bescheid. Erschrocken hielt sich die Hausbesitzerin ihre Nase zu. Sie folgte Verena nicht und blieb im Flur zurück.
Sonja Schreiber lag angezogen auf dem Bett, ihre Hand war eisig kalt und steif. Die Gelenkstarre hatte bereits eingesetzt.
Verena rief den Notarzt an, danach Stollmann. Er versprach, sofort ein Team der Kriminaltechnik zu schicken. Verena bat um einen Spürhund, er sollte den Geruch der Toten aufnehmen und am Tatort Spuren von ihr erschnüffeln. Obwohl sie erst Zweifel gehabt hatte, war sie jetzt überzeugt, dass Steins Mörderin vor ihr lag. Sie hatte erst ihm und dann ihrem eigenen Leben ein Ende gesetzt.
Verena ging durch die Wohnung und suchte nach einem Abschiedsbrief. Überall standen leere Flaschen herum, es roch noch schlimmer als vor einigen Tagen. Verena fiel die alte Dame ein, die mit verängstigten Augen im Flur wartete. „Gehen Sie lieber in Ihre Wohnung. Hier wird gleich die Hölle los sein. Sonja Schreiber ist tot.“
„Oh Gott. Etwa auch umgebracht wie dieser Politiker?“
„Nein, nein. Kein Mord, wahrscheinlich Selbstmord. Meine Kollegen werden später zu Ihnen kommen und Sie nach den Geräuschen fragen, von denen Sie vorhin erzählt haben.“
Die Frau hielt sich die Hand vor den Mund, ihre Stimme klang schockiert.
„Das ist ja furchtbar, die arme Frau. Und ausgerechnet heute, wo mein Mann nicht da ist. Er ist für drei Tage an die Nordsee gefahren, er trifft sich dort mit Freunden zu einer Fahrradtour.“
Sie sagte das in einem Ton, als ob ihr Mann an der Situation etwas ändern könnte. Aber vermutlich war sie nur wie viele ältere Frauen total auf ihren Mann fixiert.
Fünf Minuten später erschienen drei Mitarbeiter vom Dezernat für Kriminaltechnik. Auch der Notarzt und der Gerichtsmediziner waren erstaunlich schnell zur Stelle. Dann erschien noch ein Hundeführer mit einem Schäferhund namens Alex, ein schönes Tier mit glänzendem Fell und klugen Augen. Der Beamte verabschiedete sich bald wieder und kündigte an, mit dem Hund zum Tatort zu fahren. Verena wollte ebenfalls gehen. In der kleinen Wohnung stand sie den Leuten der Kriminaltechnik nur im Weg. Bevor sie ging, bat sie die Leute der Spurensicherung, nach dem Abschiedsbrief und der Tatwaffe, dem Golfschläger, zu suchen.
In allen Büros herrschte Erleichterung. Es bestand Einigkeit, selbst zwischen Stollmann und Hirschmann, der wieder genesen war: Der Selbstmord kam einem Schuldeingeständnis gleich. Stollmann gab damit an, von Anfang an den richtigen Riecher gehabt zu haben. Bei der Ausführung der Tat müsse Sonja Schreiber ausnahmsweise nüchtern gewesen sein, anders seien solche effektiv gesetzten Schläge nicht zu erklären. Erleichterung auch bei Verenas Vorgesetztem, der den Mord für aufgeklärt hielt. Niemand äußerte Zweifel an Sonja Schreibers Schuld. Hirschmann zeigte sich befriedigt darüber, dass nun ein aufwendiges Gerichtsverfahren überflüssig geworden sei. „Nichts ist angenehmer als ein toter Mörder. Keine aufwendigen Gerichtsverfahren, kein aufgeregter Staatsanwalt, keine Zeugen“, sagte er.
Der Innenminister erreichte den Landesvorsitzenden, begleitet vom Wahlkampfmanager, auf dem Weg nach Göttingen. Für Bitter war das die Fahrt in die Diaspora, denn in Göttingen kam seine Partei seit vielen Jahren nicht auf einen grünen Zweig. Der Anruf verbesserte seine Laune schlagartig. Sonja war die perfekte Mörderin: eine Beziehungstat ohne Berührungspunkte mit Politik und Partei. Mit seinem Wahlkampfmanager feilte er an Ort und Stelle an mitfühlenden Bemerkungen zu Uwe Steins Schicksal. Dass die langjährige Liebesbeziehung bekannt werden würde, war kein Drama. Das gehörte heute bei den Spitzenpolitikern fast dazu,
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