Der Sprung ins Jenseits
öffnete, war sie verschwunden. Ich war wieder allein.
Auf dem Heimweg ging ich in eine Gaststätte, um etwas zu essen. Dann war ich froh, wieder in meinem Zimmer zu sein. Ich vermißte Yü und fragte mich, wo er jetzt wohl war. Hatte er die Erde schon verlassen und sich in Raum und Zeit verloren? Hatte er einen fernen Planeten gefunden, um dort zu bleiben?
Angezogen legte ich mich auf das Bett und schloß die Augen. Ich begann mit dem Versuch, mich selbst in Trance zu versetzen. Ich wußte, daß es möglich war, wenn man sich genügend konzentrierte. Zum Glück besaß ich einige Übung von meinem Aufenthalt im Kloster. Trotzdem dauerte es fast fünf Minuten, ehe mich Müdigkeit ergriff. Das Schwierigste war, in Trance zu versinken und trotzdem wach zu bleiben. In gewissem Sinne handelte es sich um eine Spaltung meiner eigenen Persönlichkeit – die eine Hälfte versank in Trance, die andere beobachtete und gab die Anweisungen.
»Du schläfst jetzt«, sagte ich leise zu mir selbst. »Du schläfst und bist in der Gegenwart. Aber du wirst nicht in der Gegenwart bleiben, sondern zurückgehen. Immer weiter zurück. Du bist im Kloster in Tibet, aber du gehst weiter zurück. Jetzt bist du in Heidelberg auf der Universität, ein junger Mann. Aber du kannst noch weiter zurückgehen, zurück zu jenem Zeitpunkt, da du ein Kind bist. Versuche dich zu erinnern, daß du ein Kind bist! Kannst du es?«
Ich hörte alle diese Anordnungen und Fragen, als würde sie ein anderer zu mir sprechen. Und ich sah alles das, was er mir befahl. Ich sah mich in Tibet, in Heidelberg und sah mich als kleines Kind. Es war mir plötzlich, als sei ich das kleine Kind. Ich erlebte meine Kindheit.
Und dann kam wieder diese Stimme leise und eindringlich, die meine eigene Stimme war:
»Und nun gehe noch weiter zurück – immer weiter zurück durch Raum und Zeit. Du bist ein Säugling – aber du gehst weiter zurück, noch viel weiter zurück – immer weiter und weiter und weiter – bis du etwas siehst und erlebst, das dir bemerkenswert erscheint. Dann gehst du nicht mehr zurück, sondern bleibst. Bis dahin aber gehe zurück in deiner Erinnerung, immer weiter zurück, zurück durch Raum und Zeit …«
Ich versank immer mehr in der Erinnerung. Um mich war völlige Dunkelheit. Ich hatte die Augen weit aufgerissen, aber es blieb dunkel, und die Stimme sprach immer noch zu mir – leise und eindringlich. Ich fiel und fiel und fiel.
Und dann wurde es mit einem Schlag hell.
»Jetzt kann ich wieder sehen!« rief ich laut.
Und ich antwortete mir:
»Wenn du siehst, dann sage mir, was du siehst. Geh nicht weiter zurück in die Vergangenheit, sondern berichte.«
Es war vollkommene Selbsthypnose. Noch nie in meinem Leben war sie mir so gut gelungen wie heute.
Ich sah einen bewaldeten Bergrücken, der hoch in einen klaren, blauen Himmel ragte. Davor lag eine weite, mit einzelnen Büschen bedeckte Ebene. Es war eine Art Sandwüste mit wenig Vegetation. Zu meiner rechten Hand war ein Fluß, an dessen Ufern Zelte standen – Zelte aus Tierhäuten. Zur Linken erstreckte sich die Ebene bis zum Horizont, der durch Berge abgegrenzt wurde. Als ich mich umdrehte, sah ich hinter mir einen Wald. Es war ein dünner, spärlicher Nadelwald. Ich hörte Geschrei und drehte mich wieder um.
Ein paar Kinder liefen auf mich zu, nackte Kinder mit buntbemalten Gesichtern. Sie schrien mir etwas in einer Sprache zu, die ich plötzlich verstand. Es war meine Muttersprache – die Sprache der Kiowas.
Abseits der Zelte loderte ein Lagerfeuer. Darum herum saßen die Krieger und der Häuptling. Einer der Krieger war mein Vater. Meine Mutter war unten am Fluß mit den anderen Frauen, die Wäsche sauberklopften. Viel gab es nicht zu waschen, aber die Felle und Tücher mußten gesäubert werden, denn wir waren gerade aus den Winterrevieren zurückgekehrt.
Ich drehte mich um und rannte in den Wald. Meine Freunde liefen hinter mir her, und das Jubelgeschrei war groß, als sie mich gefangen hatten. Sie schleppten mich in das Zeltdorf zurück.
Ich erlebte alles mit solcher Realität, daß mir die Arme weh taten, als meine Freunde mich hinter sich herzogen. Ich hatte einen Muskelkater, denn gestern war ich mit auf der Jagd gewesen. Meine Fußsohlen brannten noch von dem langen Marsch.
Dann hörte ich wieder meine eigene Stimme:
»Und nun gehst du noch weiter zurück. Immer weiter zurück durch Raum und Zeit, hinab in die Vergangenheit. Geh so weit zurück, bis sich das Dunkel
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