Der Sprung ins Jenseits
Ich brachte es einfach nicht fertig, ihn wie Yü im Stich zu lassen. Also beschloß ich, nach Schweden zu fahren und Dr. Halström aufzusuchen. Er und Dr. Frederik waren meine einzigen Vertrauten.
Ich kratzte meine letzten Barmittel zusammen und bezahlte das Hotelzimmer, nahm meinen Koffer und wanderte zum nächsten Autoverleih. Ich hatte insofern Glück, als sie einige ältere Modelle verkaufen wollten. Mein letztes Geld reichte gerade noch für einen offenen Zweisitzer, der zwar nicht vertrauenerweckend aussah, dafür aber billig war. Nachdem die Formalitäten erledigt waren, konnte ich mich zum erstenmal in meinem Leben Autobesitzer nennen. Ich warf den Koffer auf den Beifahrersitz und war zehn Minuten später auf der Zubringerautobahn Nürnberg. Ich hätte natürlich auch mit der Bahn fahren können, das wäre billiger gewesen. Aber ich wollte allein sein. Das Wetter war warm, und der offene Wagen war gerade das Richtige für mich. Ich erreichte die Autobahn und gab Gas. Der alte Karren machte noch immer seine hundertzwanzig Sachen.
Die Autobahn war nicht sehr belebt. So konnte ich immer mit Höchstgeschwindigkeit fahren, ohne mich allzusehr konzentrieren zu müssen. Dr. Halström und Dr. Frederik würden Augen machen, wenn sie hörten, was ich inzwischen alles in Erfahrung gebracht hatte. Wie sehr sich Darwin doch geirrt hatte! Natürlich nicht in jeder Hinsicht, denn die Evolution der Rassen blieb bestehen. Aber der Mensch war nicht das Endprodukt. Es hatte ihn wahrscheinlich schon gegeben, als noch kein Leben auf der Erde existierte.
Kurz vor dem Frankfurter Kreuz kehrte ich in eine Raststätte ein, um bald darauf weiterzufahren. Nun ging es geradewegs nach Norden. Ich hatte die Sonne im Rücken, und das Fahren machte Spaß. Und dann, zwischen Kassel und Hannover, passierte es.
Wäre ich ein geübter Autofahrer gewesen, hätte ich vielleicht anders reagiert. Ich hatte Gas gegeben und wäre weitergefahren. So aber bremste ich, als ich den anderen Wagen kommen sah. Es war ein schwerer Wagen, der mit mindestens einhundertsechzig Stundenkilometern die Leitplanke durchbrach und schräg auf mich zuraste. Mein Bremsen brachte mich genau in seine Bahn. Alles ging so schnell, daß ich höchstens zwei oder drei Sekunden Zeit hatte. Diese winzige Zeitspanne genügte, um mich erkennen zu lassen, daß es keine Rettung für mich gab. Sie genügte mir auch, meinen Körper blitzschnell zu verlassen, und zwar den Bruchteil einer Sekunde vor der Kollision. Ich hörte das Kreischen des Metalls, als sich die beiden Wagen ineinander verkeilten. Mein kleiner Zweisitzer wurde regelrecht zermalmt und über die Böschung geschleudert. Der Tank explodierte, und eine Stichflamme schoß hoch. Der große Wagen raste weiter und stürzte ebenfalls über die Böschung. Er überschlug sich mehrmals und blieb schließlich auf dem Dach liegen. Die Räder drehten sich noch.
Dann war Ruhe.
Ich schwebte hoch über der Unglücksstelle, als ginge mich das alles nichts mehr an. Ich wußte, daß Alan Winter in diesen Sekunden gestorben war. Mein Körper verbrannte dort unten neben der Autobahn. Aber auch jener, der meinen Tod verschuldet hatte, lebte nicht mehr. Er hing blutüberströmt über dem Lenkrad, unbeweglich und leblos.
Andere Wagen hielten, Menschen eilten herbei. Jemand rannte zu einem Autobahntelefon und benachrichtigte die Polizei. Minuten später sah ich schon in der Ferne die blauen Lichter.
Teilnahmslos sah ich zu, wie meine Leiche aus den glühenden Trümmern meines Wagens geborgen wurde. Ich war sicherlich nicht mehr zu identifizieren. Ich besaß keine Angehörigen, und niemand würde mich vermissen. Ich war tot – endgültig tot für die Menschheit.
Mich überkam ein Gefühl unendlicher Leichtigkeit. Als sei ich von etwas befreit worden, das mich ein ganzes Leben lang bedrückt hatte. Ohne daß ich es wollte, stieg ich höher, immer höher, hinein in den blauen Himmel. Die Autobahn unter mir wurde zu einem schmalen Band, das sich hell durch die Landschaft schlängelte. Dort, wo der Unfall geschehen war, staute sich der Verkehr. Ich aber stieg immer höher, bis keine Einzelheiten mehr zu erkennen waren. Dann folgte ich der Autobahn nach Norden, schneller und immer schneller. Hannover flog vorbei, die norddeutsche Tiefebene, dann Hamburg. Ich erreichte das Meer, änderte die Richtung und war Minuten später in Stockholm.
Es war früher Nachmittag. Dr. Halström saß in seinem Arbeitszimmer und las in einem Buch. In der
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