Der Stalker
führte. Aber nicht sicher genug, um einen Fluchtversuch zu unternehmen. An einer Führung über der Galerie hingen Ketten, die bei jedem Windzug und bei jeder Bewegung leise klirrten. An einigen hingen riesige Haken, ein paar mit schweren Gegengewichten. Konnte sie einen davon packen und sich daran hinunterschwingen? Wäre das der schnellste Weg nach unten? Schneller als die Treppe?
Sie wunderte sich über sich selbst. Was fiel ihr ein? War sie so verzweifelt, dass sie ihr Leben aufs Spiel setzen würde, um zu entkommen?
Auf jeden Fall.
Also. Wie ließ es sich anstellen?
Das hatte sie noch nicht herausgefunden. Außerdem war sie zu schwach, um einen Versuch zu starten. Der Gang die Treppe hinauf und über die Galerie hatte ihr die Gelegenheit gegeben, ihre Beine zu bewegen und ihren Kreislauf anzukurbeln. Das hatte ihr vermutlich einen größeren Vorteil verschafft, als ihren Peinigern klar war. Aber es war noch zu früh. Der richtige Zeitpunkt war noch nicht gekommen.
Also lag sie da und tat weiterhin so, als wäre sie bewusstlos. Oder zumindest hilflos und ungefährlich.
Sie wartete auf den richtigen Augenblick.
Den Augenblick zur Flucht.
101 Mickey musterte Mark Turner, der zusammengesunken auf seinem Stuhl saß. Er gab sich Mühe, unbeteiligt zu wirken, wie ein Student in einer Vorlesung, die ihn zu Tode langweilt, aber Mickey wusste es besser. Turner war am Ende. Er war kurz davor einzuknicken.
Ich krieg dich, dachte Mickey. Zeit fürs Finale .
»Also«, nahm er den Faden des Gesprächs wieder auf. »Fiona hat die Frauen ausgesucht. Die Opfer.«
Turner nickte.
»Warum gerade diese Frauen?«
»Weil sie alle der Toten ähnlich sahen. Der Frau, von der der Creeper so besessen war. Rani.«
»Alle hatten dunkle Haare und braune Augen?«
»Ja.«
»Und dass sie Ihre Exfreundinnen waren, das war bloß Zufall?«
Ohne seine Haltung zu verändern, zuckte Turner die Achseln.
»Ist das ein Ja?«
»Ja.«
»Sie hatten also kein Problem damit?«
»Nein.« Turner hatte den Blick abgewandt. Da war etwas in seinen Augen, von dem er offenbar nicht wollte, dass Mickey es sah.
»Fiona Welch wusste, dass Sie vor ihr andere Freundinnen gehabt hatten. Wahrscheinlich hat sie Sie mit ihnen zusammen gesehen. Deswegen war sie scharf auf Sie.«
Turner sagte nichts.
»Sie sind vorher immer mit den beliebtesten Mädels ausgegangen. Das hat sie bestimmt eifersüchtig gemacht. Vielleicht war sie deswegen hinter Ihnen her.«
Auch dazu sagte Turner kein Wort.
»Und was, wenn Sie immer noch ein Auge auf eine Ihrer Exfreundinnen geworfen hatten? Oder auf alle? Das hätte ihr bestimmt nicht gefallen. Da war es besser, sie gleich aus dem Weg zu räumen. Die Konkurrenz auszuschalten. Und genau das hat sie gemacht. Eine nach der anderen. Und Sie haben ihr dabei geholfen.«
Turner schwieg.
»Wieso hat Ihnen das nichts ausgemacht, Mark?«
Mickey wartete. Nichts kam.
»Mark?«
»Hab ich Ihnen doch gesagt«, kam die widerwillige, fast bockige Antwort.
Langsam kommen wir der unbequemen Wahrheit näher, dachte Mickey. Langsam muss er sich dem stellen, was er die ganze Zeit verdrängt hat.
»Sie haben gesagt, dass Sie über alldem standen. Dass menschliche Werte und Gefühle Sie gar nicht mehr interessiert haben.«
»Genau.«
»Und zwar alle menschlichen Gefühle.«
»Genau.«
»Liebe …«
»Genau.«
»Sie Lügner.«
Mickeys Ton war schneidend, und Turner schoss erschrocken hoch, als hätte er eine Ohrfeige bekommen.
»Sie verdammter Lügner.«
Turners Augen wurden groß. »Sie können nicht …«
»Was? Was kann ich nicht? So mit Ihnen reden? Warum nicht? Sie sind ein erbärmlicher Lügner.«
»Bin ich nicht!«
»Und ob Sie das sind. Sie hatten noch den Schlüssel zu Suzannes Wohnung. Wieso? Damit Sie eines Tages vielleicht noch mal vorbeischauen konnten? Nur für den Fall, dass Sie wieder zusammenkommen? Oder konnten Sie einfach nur nicht loslassen … weil Sie ganz tief im Innern, egal, was Fiona Welch Ihnen für einen Bullshit eingetrichtert hat, wussten, dass es falsch war. Weil Sie wussten, ganz egal, was sie gesagt oder getan hat, dass Sie mit ihr niemals so glücklich sein würden wie mit Suzanne? Ist das der Grund?«
Turner kniff die Augen zusammen. »Hören Sie auf damit!«
»Aufhören? Aber wieso denn? Ich fange gerade erst an. Schauen wir uns gleich noch mal die anderen an. Julie Miller. Sie war die Erste …«
»Ich war nicht mit ihr …« Turners Protest war schwach, und seine Miene verriet,
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