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Der Stammgast

Der Stammgast

Titel: Der Stammgast Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Georges Simenon
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zwischen zwei herausgeprusteten Wasserfontänen auflachte, klang es wie ein barbarisches, mächtiges Brunstgeschrei.
    »Kommt zurück!« rief die Stimme wieder, als Leyla gerade in eine große dunkle Wasserfläche hineinschwamm.
    Stille war die einzige Antwort.
    »Was geht hier vor?«
    Jetzt war Nouchi in Begleitung Stolbergs auf die Terrasse getreten; sie wußte noch nichts. Jonsac warf ihr einen giftigen Blick zu.
    »Kommt zurück, es ist genug!«
    Das Kalmückengesicht schwamm keuchend und langsam allein auf das Ufer zu. Die Männer sahen sich betreten und beunruhigt an.
    Jonsac, der sie beiseite schob, war der einzige, der in das an der Terrasse festgemachte Kayik sprang und hinausruderte.
    »Leyla!« rief er. »Leyla!«
    Und als hätte er die Ängste des Mädchens gespürt, setzte er mit unkenntlicher Stimme hinzu:
    »Haben Sie keine Angst! … Ich bin es! … Ich verspreche Ihnen, daß ich nicht schauen werde … Leyla! … Wo sind Sie?«
    Er ruderte aus Leibeskräften auf ein leichtes Plätschern zu, das er nur ungenau im Bosporus lokalisieren konnte. Trotz der Kühle des Morgengrauens kam er ins Schwitzen.
    »Leyla! … Ich bin es, Jonsac … Ich gebe Ihnen mein Jackett.«
    Er glaubte, sie zu sehen, wie sie unentschlossen umherschwamm und mit weit aufgerissenen Augen auf die vielen Männer blickte, die sich auf der Terrasse des Yali versammelt hatten, um sie nackt dem Wasser entsteigen zu sehen.
    Sie hatte ihnen die Stirn bieten, ihnen zeigen wollen, daß sie keine Angst hatte, daß sie frei war. Sie hatte ihren Sticheleien eine Mutprobe entgegengesetzt, und das kalte Wasser hatte sie auf den Boden der Wirklichkeit zurückgebracht.
    »Leyla! … Wo sind Sie?«
    Plötzlich sah er sie, viel näher als erwartet. Sie schwamm kaum noch. Das Wasser war klar genug, um nichts von ihr zu verhüllen, doch so, wie sie jetzt war, bleich im schwarzseidigen Bosporus und durch das bewegte Wasser verzerrt, rief sie bei Jonsac nur Mitleid und Zorn hervor.
    Zorn auf alle! Und nicht nur wegen Leyla! Vielleicht war er im Grunde gar nicht ihretwegen in das Kayik gesprungen.
    Es waren zwei Frauen da, und weil er Nouchi nicht retten konnte, so rettete er eben die andere!
    »Halten Sie sich am Boot fest. Ich gebe Ihnen mein Jackett …«
    Er zog es aus und wandte sich ab. Dann hörte er sie gegen die Planken stoßen und vor Anstrengung stöhnen.
    Als er sich wieder umdrehte, lag Leyla zusammengekauert im Bug, wo sie, notdürftig vom Jackett verhüllt, die Hände vors Gesicht hielt und still vor sich hin weinte.
    »Nicht dorthin! Nicht dorthin!« flehte sie.
    Eine Stimme, es war die Uzuns, rief vom Ufer her:
    »Haben Sie sie?«
    Jonsac antwortete nicht. Er kam sich hilflos und dumm vor.
    »Ich will nicht wieder dorthin! … Sie hätten mich sterben lassen sollen …«
    »Schscht! … Beruhigen Sie sich …«
    »Wenn Sie mich zu diesen Saukerlen zurückfahren, bringe ich mich um!«
    »Sie können nicht ohne Ihre Kleider nach Hause gehen.«
    »Das ist mir egal.«
    Sie schüttelte sich am ganzen Körper. Ein nervöser Weinkrampf überfiel sie, und sie biß sich den Arm blutig.
    »Sie dürfen mich nicht dorthin zurückbringen!«
    Sie waren nur noch zehn Meter vom erhellten Yali entfernt, und vor der Bucht hoben sich wie ein Schattenspiel die Umrisse von Menschen ab.
    »Gebt mir ihre Kleider«, rief Jonsac hinüber.
    Erst unschlüssiges Schweigen. Dann ordnete Nouchi in ruhigem Ton an:
    »Tut, was er sagt!«
    Leyla kauerte sich noch enger im Boot zusammen, um von der Terrasse aus nicht gesehen zu werden. Stolberg beugte sich vor und reichte ein kleines, seidiges Bündel ins Boot.
    »Ihre Schuhe!« Es war abermals Nouchis Stimme.
    Die Musik und das Gemurmel waren verstummt und einem ängstlichen, betretenen Schweigen gewichen.
    Wieder war es aus Rache an Nouchi, daß Jonsac das Boot vom Ufer abstieß und sich in die Riemen legte.
    »Jetzt können Sie sich anziehen. Ich werde bestimmt nicht schauen.«
    »Bei Ihnen ist das etwas anderes.«
    Er registrierte erst später, daß sie das gesagt hatte. Im Augenblick fiel es ihm nicht auf. Nach dem Schaukeln des Bootes zu urteilen, zog sie sich mit fiebriger Hast an und zupfte Kleid und Strümpfe zurecht.
    »Ich habe meine Handtasche nicht«, jammerte sie schließlich wie ein kleines Mädchen.
    »Ich bringe sie Ihnen morgen.«
    Sie sprang von einem Gedanken zum anderen:
    »Warum haben Sie das getan?«
    »Was soll ich getan haben?«
    »Das Gegenteil von den anderen. Sie haben mich

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