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Der Stammgast

Der Stammgast

Titel: Der Stammgast Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Georges Simenon
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herausgeholt.«
    Er hatte sich umgedreht und sah jetzt, wie sie mit den Fingern ihre nassen Haare zu kämmen versuchte.
    »Was denken Sie über mich?«
    »Über Sie denke ich nichts. Über die anderen keine schmeichelhaften Sachen.«
    Kurz bekam er es mit Angst zu tun. Er hatte den Bosporus noch nie alleine überquert, und jetzt erfaßten Strömungen das Boot und drohten es zum Schwarzen Meer hin abzutreiben. Einige Minuten lang ruderte er wie wild, an nichts denkend, mit einem Sausen in den Ohren.
    »Kommen wir vorwärts?« fragte er.
    »Warten Sie … Ich habe das Gefühl … Nein … Doch, jetzt kommen wir langsam vorwärts …«
    Noch immer konnte man die Lichter von Stolbergs Yali erahnen, und Jonsac sagte sich, daß der Schwede Nouchi bestimmt mit dem Auto nach Hause fahren würde. Er sah wieder ihre Lippen sich aufeinander zu bewegen.
    »Sie sind mir ein Mann!« seufzte Leyla.
    Sie hatte wohl dasselbe gedacht wie er und sich gefragt, warum er, statt sich um seine Mätresse zu kümmern, ein fremdes Mädchen nach Hause brachte.
    »Ihre … Ihre Freundin wird allein nach Hause gehen müssen …«
    Er gab keine Antwort. Das Herz drehte sich ihm im Leibe herum.
    »Wohin fahren Sie?«
    »Ich weiß es nicht …«
    In der Dunkelheit bot das Ufer keine Anhaltspunkte, und sie brauchten eine halbe Stunde, bis sie mit angestrengten Augen eine Anlegestelle ausgemacht hatten. Von seinem Rausch war Jonsac eine gewisse Ungeschicktheit in den Bewegungen geblieben, und immer noch hatte er dieses ständige und schmerzhafte Pochen in den Schläfen.
    Um in die Stadt zurückzukommen, brauchten sie ein Taxi. Doch in den menschenleeren, nur schwach beleuchteten Straßen mußten sie lange suchen. Der Himmel hatte ein leuchtendes Grau angenommen, und von Minute zu Minute traten die Gesichter mehr aus der Dunkelheit heraus, in der sie bisher verborgen waren.
    Leyla klebten die feuchten Kleider am Leib. Ihr Haar bildete eine kompaktere Masse als sonst und umrahmte nicht mehr die Stirn. So war sie zwar weniger hübsch, doch ernster und anrührender.
    Jonsac wurde sich des Verlustes seines Monokels erst bewußt, als er den erstaunten Seitenblick seiner Begleiterin auffing. Er war wohl ebenso verändert wie sie. Die Müdigkeit mußte seine Züge scharf herausgearbeitet und die Einseitigkeit seines Gesichts betont haben, außerdem blinzelte er ständig.
    »Meinetwegen steht Ihnen jetzt ein Krach ins Haus!« sagte sie.
    »Warum?«
    »Nouchi wird nicht sonderlich erfreut sein.«
    Er wandte den Kopf ab. Sie waren allein in einem alten Taxi, und der Fahrer, der sie für ein Liebespaar hielt, fuhr absichtlich langsam. Jonsac glaubte aus den Worten seiner Begleiterin eine kleine Spitze gegen ihn herauszuhören.
    Meinte sie, er sei in sie verliebt? Ahnte sie, daß er aus Eifersucht gehandelt hatte?
    Aus Eifersucht, ja, aber seine Eifersucht richtete sich gegen die Menschheit insgesamt, war gemischt mit Empörung und Ekel. Sie saß dicht neben ihm. Er fühlte ihre Schulter an seiner Schulter. Es schien ihm sogar, daß diese Schulter die Berührung suchte.
    »Ihr Urteil über mich ist sicherlich vernichtend.«
    Er verneinte, nicht aus Überzeugung, sondern um etwas zu sagen. Es fiel ihm gar nicht ein, über sie zu urteilen.
    »Versprechen Sie mir, daß Sie vergessen, was diese Nacht geschehen ist!«
    Sie hatte seinen Arm ergriffen und schien darauf zu warten, daß er sie küßte.
    »Ich verspreche es.«
    Es blieb Leyla nichts übrig, als sich vorzubeugen, die Scheibe herunterzulassen und dem Fahrer ihre Adresse zu geben. Sie verabschiedeten sich vor einem modernen Wohnhaus in Pera.
    »Bringen Sie mir meine Handtasche?«
    »Morgen.«
    »Heute«, berichtigte sie und zeigte lächelnd auf den perlmuttfarben über den Dächern schimmernden Himmel.
    Der Portier des › Pera Palas‹ wunderte sich, Jonsac allein nach Hause kommen zu sehen.
    »Ist sie noch nicht da?«
    »Madame ist noch nicht zurückgekehrt.«
    Er wollte eben zu Bett gehen, als die Aufzugstür ging und er klare, feste Schritte auf dem Gang und einen leichten Stoß gegen die Tür hörte.
    Es war Nouchi. Sie hatte die in Zeitungspapier eingewickelte Elfenbeinstatuette in der Hand.
    »Nanu?« sagte sie erstaunt und warf den Hut auf ihr Bett.
    »Was ist?«
    »Und die Kleine?«
    Er gab keine Antwort und fuhr fort, sich die Zähne zu putzen.
    »Wenn sie nach all dem nicht verliebt ist! …«
    »Schweig.«
    »Reden wir morgen darüber.«
    Zum ersten Mal zog sie sich in seiner Gegenwart aus, ohne

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