Der Stammgast
vielleicht hinausgestürzt.
Hinter der Tür unterhielt man sich in gemessenem Ton, als ob nichts passiert wäre.
»Das ist doch nicht möglich!« stöhnte er halblaut.
Es tat ihm alles weh. Seine Knie zitterten.
›Wenn in drei Minuten …‹
Nach den drei Minuten gewährte er sich nochmals drei Minuten Aufschub, weil er nicht wußte, wohin er gehen sollte. Durch die halbgeöffnete Tür sah er auf die Halle hinaus, wo der Botschaftsdiener an einem kleinen Schreibtisch saß und eine französische Zeitung las, die er beim geringsten Geräusch unter seiner Schreibunterlage versteckte.
»Ihr Vater ist sicher schon benachrichtigt worden! …«
Die Angst steigerte sich zur Panik. Er konnte nicht mehr! Botschaft hin oder her! Er beugte sich vor und griff nach dem Hut, der vor ihm auf einem Sessel lag.
»Auf Wiedersehen, mein Bester … Meine Empfehlungen an die verehrte Frau Gemahlin …«
Der Botschafter behielt die Tür offen und sagte in verändertem Tonfall:
»Ach, Sie, sind Sie da! Kommen Sie herein.«
Mit einem leichten Federknarren schloß sich hinter ihnen die gepolsterte Tür.
10
Als der Botschafter Jonsac verabschiedete, schien er ebenso verlegen zu sein wie sein Besucher, dem er langsam und ostentativ die Hand hinstreckte, als wolle er der Geste einen über die bloße Höflichkeit hinausgehenden Sinn verleihen.
»Kommen Sie morgen wieder, wie gewohnt«, sagte er.
Das Gespräch hatte über eine halbe Stunde gedauert. Die Sekretärin war gebeten worden hinauszugehen, und der Botschaftsdiener hatte mehrmals an der Tür gehorcht, als es drinnen besonders laut zugegangen war.
»Wirklich? Sie behaupten also, ganz und gar unbeteiligt zu sein an dieser Gesellschaft mit ihrer angeblichen Unterstützung seitens der …«
Jonsac reagierte nicht, er merkte kaum, daß es um gewichtige Dinge ging, und während der Botschafter sprach, überlegte er, wie er Nouchi treffen könne. Denn er mußte mit ihr reden, bevor er irgend etwas anderes tat, ja bevor er einen Fuß in die Wohnung setzte, in der ihn vielleicht schon die Polizei erwartete!
›Wenn Leyla tot ist, hat man den Leichnam zu den Eltern gebracht‹, sagte er sich. ›Wenn sie nicht tot ist, so liegt sie im Krankenhaus, und Nouchi ist ebenfalls dort …‹
Mit sorgenvoller Miene, die Gedanken ganz woanders, versuchte er den Ausführungen des Botschafters zu folgen, der jetzt eindringlicher wurde. Worte wie Vertrauensmißbrauch und Taktlosigkeit fielen, und Jonsac sagte immer noch nichts, sondern nickte nur zerknirscht.
Dem Botschafter wurde es allmählich zu bunt. Nach kurzem Zögern schlug er andere Töne an.
»Sie haben, wie ich höre, eine neue Wohnung, Monsieur de Jonsac!«
Dieser nickte wieder. Auf einmal schwante ihm, was kommen würde.
»Ich habe mir sagen lassen, es sei eine Luxuswohnung, und Sie würden nicht allein darin wohnen …«
Im Collège Stanislas, wo er Internatszögling gewesen war, hatte er mit dem Disziplinpräfekten eine Unterredung gleichen Stils gehabt. Er war damals mit fünfzehn einer Frau, die auf dem Gehsteig promenierte, in ein Billighotel gefolgt. Es war am Boulevard Sébastopol gewesen. Jemand hatte es gesehen.
»Eine Schande für die Institution, eine Schande für Sie, Monsieur de Jonsac«, hatte der Präfekt getönt.
Mit weniger Emphase murmelte jetzt der Botschafter:
»Sie kennen die Klatschsucht in Stambul. Mir wäre doch sehr lieb, wenn über Botschaftsangehörige nicht solche Peinlichkeiten zirkulieren würden, wie sie über Sie gemunkelt werden …«
Er erwartete einen Ausbruch, heftigsten Protest, doch statt dessen erhielt er nur ein bitteres Lächeln, das ihn vollends in Rage brachte.
»Kapieren Sie denn gar nichts? Die Frau, mit der Sie zusammenleben, ist doch Nachtklubtänzerin, nicht wahr? Man sieht sie aber Tag und Nacht in Begleitung von Personen, die als Lebemänner bekannt sind. Und Sie trotten hinter ihr her und nehmen es in Kauf, wenn es heißt …«
Jonsacs Augen leuchteten auf. Diesen Gedanken hatte er selbst schon gehabt, und er hatte es irgendwie kommen sehen.
»Daß ich mich von ihr aushalten lasse«, sagte er mit einer Deutlichkeit und Ruhe, die ihn selbst überraschte.
Jetzt war es der Botschafter, der den Kopf abwandte, und Jonsac fügte hinzu:
»Sie legen mir wahrscheinlich die Kündigung nahe?«
»Nein! Ach was! Mir kam es darauf an, die Sache mit Ihnen zu klären, und zwar heute und nicht erst morgen.«
Das war es. Es mußte ihm den ganzen Tag lang Bauchgrimmen bereitet haben,
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