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Der Stammgast

Der Stammgast

Titel: Der Stammgast Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Georges Simenon
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und er wollte es endlich loswerden.
    »Ich will ja nur Ihre Stellungnahme hören, das wissen Sie selbst.«
    »Herr Botschafter, ich bin außerstande, heute auch nur das Geringste dazu zu sagen. Ich biete Ihnen meine Kündigung an …«
    Diese Worte kehrten wie ein Leitmotiv wieder. Wenn Leyla nicht auf der Stelle tot gewesen war, so rang sie vielleicht zur Stunde in einem Krankenhausbett mit dem Tod.
    Er wunderte sich, daß die Polizei nicht in der Botschaft anrief und nach ihm fragte. Das Telefon würde sicherlich im nächsten Augenblick klingeln.
    »Ich verstehe Ihre Haltung nicht, aber ich bin bereit, Ihre Erklärung abzuwarten …«
    Kaum hatte der Botschafter sich erhoben, flüchtete Jonsac buchstäblich aus dem Raum, er stieß gegen den Türrahmen und ergriff nur flüchtig die Hand, die ihm aufmunternd hingehalten wurde. Er lief durch die Halle und die Stufen der Außentreppe hinunter und wollte schon zum Hotel von Therapia rennen, um dort nach einem Taxi Ausschau zu halten, als bei einem am Straßenrand parkenden Auto die Tür aufging.
    Nouchi bedeutete ihm wortlos, sich neben sie zu setzen. Sie war bleich und auf eine Weise ernst, die bei ihr völlig neu war. Ihre Gesten waren gemessen, fast zeremoniell. Im Halbdunkel des Taxis empfand er beklemmende Angst, und einen Augenblick lang ging die Phantasie mit ihm durch und er stellte sich vor, er sei verhaftet und man führe ihn ins Gefängnis ab …
    »Ist sie tot?« brachte er endlich über die trockenen Lippen.
    Nouchi schüttelte den Kopf, gleichzeitig wurde ihr Blick hart, und sie stieß einen Seufzer aus, als wollte sie sich von quälenden Bildern befreien.
    »Man hat sie ins englische Krankenhaus gebracht, weil es das nächste war«, antwortete sie schließlich.
    Das Taxi fuhr langsam dem Bosporus entlang, der Fahrer wartete darauf, daß man ihm das Fahrtziel angab. Nouchi merkte es plötzlich, sie beugte sich vor, kurbelte die Scheibe herunter und nannte Müfti Beys Wohnung.
    Sie erriet die Frage in Jonsacs Blick:
    »Ich bin ins › Tokatlian‹ gegangen … Sie waren vollzählig versammelt … Auch der Vater … Ein Polizeibeamter ist mit mir gekommen …«
    Jonsac hätte sich gern die Vorstellung der Szene in der Konditorei erspart, in der zu dieser Stunde ein berühmtes Streichquartett musizierte.
    »Die Frauen sind zur Tür hinausgestürzt und zum Krankenhaus gerannt … Ich habe mich im Hintergrund gehalten … Der Vater hat den Polizisten Fragen gestellt …«
    »Was hat er gesagt?«
    »Ich weiß es nicht … Man hat mich auch nicht in das Krankenhaus gelassen … Ich mußte auf die Polizeiwache, wo ich erklärt habe, wie es passiert ist …«
    Sie war erschöpft. Sie sprach mit ausdrucksloser Stimme, doch hatte sie nicht die Nerven verloren. Sie dachte noch klar. Sie wußte, wo sie war, und wies sogar den Fahrer darauf hin, daß er die falsche Straße nahm.
    »Sie wollten dich in der Botschaft holen lassen … Ich habe erreicht, daß du erst morgen vernommen wirst …«
    Sie kamen in den dichten Stadtverkehr, und Nouchi legte die Hand auf Jonsacs Arm.
    »Du mußt aufpassen … Der Polizeioffizier hat mich gewarnt … Am Krankenbett soll Leylas Vater gedroht haben, er bringe dich um …«
    Das war also der Grund, warum sie ihn nicht nach Hause, sondern zu Müfti Bey brachte!
    »Ich habe Tevfik getroffen«, fuhr Nouchi fort. »Als Journalist bekommt er jede Auskunft … Er weiß, wo er uns erreichen kann …«
    Zu diesem Zeitpunkt war nicht nur Tevfik auf dem laufenden, sondern die ganze Gruppe. Bei Avrenos, wo schon zu Abend gegessen wurde, sprach man sich jetzt wahrscheinlich über die Tische hinweg an und deutete auf Jonsacs Platz. Vielleicht erinnerte sich Avrenos auch an das Mädchen, das tags zuvor mit ihm Kaffee getrunken hatte, und beschrieb es den Gästen.
    Selim Bey, die Ahbad-Brüder, Amar Paşa, Stolberg, jeder hatte die Nachricht irgendwo zufällig auf der Straße oder in einer Bar von Pera erfahren.
    »Müfti ist nicht da, aber ich weiß, wo er den Schlüssel hat.«
    Jonsac wurde an die Worte des Botschafters über seine Beziehung zu Nouchi erinnert. Er sah ihr zu, wie sie das Taxi bezahlte, die Haustür öffnete und den Schlüssel hinter dem Aufzugschacht hervorholte, wo Müfti sein Versteck hatte. Er, der seit Jahren mit ihm befreundet war, kannte es nicht!
    Das Paar stieg die wenigen Stufen hinunter, und weil es dunkel war, knipste Nouchi das Licht an, dessen Schalter sie nicht erst suchen mußte, sondern auf den ersten Griff

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