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Der Stammgast

Der Stammgast

Titel: Der Stammgast Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Georges Simenon
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Sie mich mit Tevfik Bey, bitte … Das ist unwichtig! … Sagen Sie, Nouchi sei am Apparat.«
    Sie mußte warten, denn Tevfik telefonierte auf einer anderen Leitung mit dem Genfer Korrespondenten.
    »Sind Sie es? Nein! … Ich möchte nur wissen, ob sie vernehmungsfähig ist … Hören Sie, mein Kleiner … Versuchen Sie es umgehend herauszufinden und rufen Sie mich zurück … Ja, wir bleiben diese Nacht hier …«
    Jonsac hatte die Bedeutung der Frage nicht gleich erfaßt. Nouchi machte sie ihm mit einem einzigen Satz klar.
    »Der Polizeibeamte, dem ich den Hergang schildern mußte, meinte, mehr zu sich selbst als zu mir:
    ›Es gibt keine Zeugen, das ist schlecht …‹«
    Anders gesagt: Nouchis Angaben, die Jonsac am nächsten Tag bestätigen würde, könnten auch falsch sein! Es würde nicht zu beweisen sein, daß das Paar das Mädchen nicht in eine Falle gelockt oder daß Jonsac nicht versucht hatte, sie zu vergewaltigen.
    Dieser Gedanke bedrückte ihn mehr als alles andere. Als er letztes Jahr in Athen gewesen war, hatte dort ein Sittenskandal für Schlagzeilen gesorgt. Der Beschuldigte, ein reicher Grundbesitzer, hatte junge Mädchen auf sein Gut gelockt, wonach sie spurlos verschwunden waren. Es zirkulierten die wildesten Vampirgeschichten, und Jonsac erinnerte sich, welches Unbehagen er empfunden hatte, als er das Foto des Mannes in der Zeitung sah.
    Es war ein ganz normal wirkender Mann, der besser aussah als er selbst und zufällig ebenfalls ein Monokel trug. Am Tag nach seiner Verhaftung hatte er sich mit den Hosenträgern erhängt, und die Erinnerung daran schnürte Jonsac jetzt so die Kehle zu, daß er sofort etwas zu trinken brauchte.
    »Da kommt Müfti!« verkündete der Albaner, der ihn am Schritt erkannt hatte.
    Er war es. Er kam so ernst und schweigsam herein, als betrete er ein Totenhaus.
    »Ist Selim Bey nicht hier?«
    »Noch nicht.«
    »Er hat mir am Telefon gesagt, er würde kommen. Guten Abend, Nouchi.«
    Er küßte sie auf die Stirn, wie es seine Gewohnheit geworden war, dann setzte er sich, sah Jonsac an und seufzte:
    »Wie steht’s denn?«
    »Wir warten auf weitere Nachrichten von Tevfik.«
    Sie trafen nach etwa einer Stunde ein: Leyla war wieder bei Bewußtsein. Man hatte ihr Novokain gegen die Schmerzen gespritzt. Die Ankunft des Wiener Chirurgen per Flugzeug wurde bestätigt.
    Selim Bey war gekommen. Jeder schenkte sich von Zeit zu Zeit Raki nach, und als die Flasche leer war, verlangte der Albaner Geld und besorgte im Viertel Nachschub.
    Es wurde wenig gesprochen. Selim Bey kaute an einem Stück Räucherfisch herum.
    »Du hättest dich nicht zeigen dürfen«, sagte er plötzlich zu Nouchi.
    Auch er duzte sie. Nouchis Pupillen rückten zusammen, ihre Nasenlinie wurde feiner, dann bemerkte sie säuerlich:
    »Sie hätte es auch woanders tun können statt in meiner Wohnung!«
    Jonsac sagte nichts, doch im alptraumhaften Nebel, in dem er sich befand, hatte er zum ersten Mal das Gefühl, daß Nouchi eifersüchtig war.
    »Wenn Amar Paşa die Angelegenheit nicht bereinigen kann, wird eine Untersuchung eingeleitet.«
    Jonsac dachte wieder an den Vampir von Athen. Im Ermittlungsverfahren hatten sich die harmlosesten Kleinigkeiten gegen ihn ausgewirkt. So hatte er auch Haschisch geraucht, und die Anklage hatte ihn als Rauschgiftsüchtigen hingestellt.
    Es ging gegen halb zwölf, und eine dritte Raki-Flasche war eben entkorkt worden, als ein Auto vor der Tür hielt. Amar Paşa trat ziemlich verwirrt ein, drückte Nouchi beide Hände und übersah Jonsac geflissentlich.
    »Ich habe versucht, mit dem Innenministerium zu telefonieren«, sagte er. »Aber ich habe niemanden erreicht. Beim Ghasi findet ein Fest statt.«
    »Tevfik hat versprochen, um Mitternacht da zu sein. Er wird Genaueres wissen.«
    Sie lagen auf schmalen Diwanen oder auf Kissen auf dem Boden und warteten. Man sprach wenig, hie und da streckte man die Hand nach dem Rakiglas aus. Der Ahbad-Bruder mit dem Kalmückengesicht kam ebenfalls, wortlos und mit wildem Blick verkroch er sich in eine Ecke und hatte schon eine Viertelstunde später vom Suff verquollene Augen.
    »Ich werde nicht lange bleiben können«, sagte Amar.
    Jonsac erinnerte sich undeutlich an die Geschichte mit der Pferderennbahn, doch er schaffte es nicht mehr, das Thema anzuschneiden. Er war zu nichts mehr fähig, nicht einmal mehr zum Denken. Der Alkohol bewirkte bei ihm an diesem Abend keinerlei Rausch, sondern ließ ihn in einer bleiernen Benommenheit versinken. Er

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