Der Stammgast
inzwischen die Sirene des Krankenwagens gehört. Ob er schon wieder weggefahren war? Er bewegte sich zum Balkon hin, nach jedem Schritt blieb er stehen, doch schließlich reckte er den Kopf vor.
Es standen noch Schaulustige auf dem Gehsteig, doch Leyla war nicht mehr da, Nouchi ebenfalls nicht.
Jonsac nahm seinen perlgrauen Hut und wollte wie gewohnt den Aufzug nehmen. Doch er überlegte es sich anders und benützte den Dienstbotenaufgang, um niemandem zu begegnen.
›Die Polizei wird an der Wohnungstür klingeln!‹ sagte er sich, während er ein Taxi herbeiwinkte.
Es würde aussehen, als sei er geflohen, weil ihn vielleicht Schuld traf, dabei fuhr er doch nur zur Botschaft. Blieb ihm denn eine Wahl?
›Außerdem hat sie bereits einen Selbstmordversuch unternommen! Das wird bei der Untersuchung sicher festgestellt werden!‹
Dieser Gedanke beruhigte ihn ein wenig. Er fand nur einen offenen Wagen, der bald an der Konditorei vorbeifuhr. Der Regen hatte etwas nachgelassen. Schon drangen die ersten schrägen Sonnenstrahlen durch. Hinter den Fenstern der Konditorei sah man Leute Tee trinken oder Eis essen.
Etwas später fuhr er an Müfti Bey vorbei, der auf dem Gehsteig ging und ihm zuwinkte. Er wußte noch nichts!
Um ein Haar wäre das Taxi beim Überholen mit einer Straßenbahn zusammengestoßen. Jonsac beugte sich vor:
»Sind Sie verrückt?« schrie er den Fahrer an. »Fahren Sie langsamer, sonst nehme ich ein anderes Taxi!«
Was hatte Nouchi gesagt, als sie unten war? Man hatte sie sicher befragt. Der Körper mußte noch …
›Exzellenz …‹
Er versuchte, sich auf das Gespräch vorzubereiten.
›Man hat vielleicht meinen Namen mißbraucht, aber ich gebe Ihnen mein Wort, daß ich von der Sache überhaupt nichts weiß und …‹
Nein! So ging es nicht. Er wußte zwar nicht viel von dieser Rennbahngeschichte, aber es war immerhin seine Frau, die das Ganze eingefädelt hatte, seine offizielle Ehefrau! Ob man das in der Botschaft überhaupt wußte?
Es wäre wohl klüger, wenn er von Leyla spräche.
›Entschuldigen Sie, Exzellenz … Aber mir ist etwas Entsetzliches zugestoßen …‹
Vielleicht könnte die Botschaft die Formalitäten vereinfachen? Warum hatte sich Leyla vom Balkon gestürzt? Eigentlich hätte sie doch wissen müssen, worauf sie sich einließ, wenn sie zu ihm kam. Und war nicht überhaupt sie es gewesen, die ihm nachgestellt hatte?
Er hatte sie nicht angelogen, als er versprach, sie zu heiraten. Es wäre nicht ausgeschlossen gewesen.
»Sie ist kapriziös, unberechenbar«, sagte er zu sich selbst.
Ein Bild belastete ihn allerdings mehr als alles andere, mehr als die Tragödie selbst. Es war Leylas Gesicht, die zugepreßten Augenlider, die zerfurchte Stirn – davor …
Er wurde sich nicht klar, was er bei der Erinnerung daran empfand, wie der Ausdruck dieses Gesichts zu deuten gewesen wäre. Es erinnerte ihn an bestimmte gotische Madonnen, vor denen man stundenlang träumen kann, ohne ihnen je ihr Geheimnis zu entlocken.
In diesen Bildern liegt kein Schmerz, auch kein Aufbegehren. Vielleicht etwas wie Ergebenheit der Welt in ihr Schicksal?
»Sie hätte bloß nein zu sagen brauchen! Ich hätte keine Gewalt angewendet!«
In Therapia war, von einigen gelblichen Rinnsalen am Straßenrand abgesehen, vom Regen bereits nichts mehr zu merken.
Hätte Leyla ihrem Schicksal entgehen können? Sie hatte sich nicht aus sexuellem Antrieb heraus mit dem Mann eingelassen.
›Sie wollte heiraten! …‹
Er errötete, er hatte das Andenken an die Tote besudelt. War sie überhaupt tot? Es gab Leute, die solche Stürze überlebt hatten!
›Von der Botschaft aus rufe ich die Polizei an …‹
Noch besser war, Nouchi zu treffen, sie wußte es sicher! Er mußte um jeden Preis mit ihr reden, bevor er irgend etwas sagte, sonst könnten sich ihre Aussagen widersprechen. Sie hatte ja ihren klaren Kopf behalten!
Er sah das Auto des Botschafters vor dem Portal stehen, demnach war er noch da.
»Man bittet Sie zu warten«, kam der Botschaftsdiener mit der Silberkette sagen.
Der Geruch nach Zigarre und russischem Eau de Cologne erfüllte auch das Vorzimmer mit den roten Samtsesseln. Hinter der gepolsterten Tür vernahm man undeutlich Stimmen. Der Zeiger einer Wanduhr aus weißem Marmor rückte jede Minute einen Strich vor.
Jonsac wurde von einer unerträglichen Angst gepackt. Er konnte nicht mehr stillsitzen. Aber er konnte auch nicht weggehen. Er hatte sein Taxi nicht warten lassen, sonst wäre er
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