Der Staubozean
aber jetzt aufs Meer abgetrieben.
Plötzlich gelangte sie in eine Zone der Ruhe. Sie verlangsamte ihren Aufstieg, wurde dann aber von einem anderen Wind gepackt, ebenso kräftig doch in die entgegengesetzte Richtung blasend. Sie stemmte sich gegen ihn, versuchte zu wenden und überschlug sich in der Luft, als sie in eine Turbulenz geriet. Der Wind zerrte an ihrem losen Umhang, dem einzigen Kleidungsstück, das sie trug.
Allmählich kam Dalusa wieder zu Kräften, legte die Flügel an und fiel. Im Sturz gewann sie Geschwindigkeit, korrigierte ihre Flugbahn, öffnete erneut ihre Schwingen und schwebte auf das Schiff zu. Sie hatte die Geschwindigkeit des Windes großartig eingeschätzt. Jetzt blickte sie genau dem Rand des Vorgebirges entgegen. So war jedenfalls die Haltung ihres Kopfes - die Form ihres Halses war schon immer etwas merkwürdig gewesen. Die beiden Vektoren, die sich gegenseitig korrigierten, ließen sie auf das Schiff zugleiten. Es gelang ihr; geradezu anmutig schwebte sie über die Backbordreling und brach auf dem Deck als flügelbedecktes Bündel zusammen.
Mr. Flack war in einem Sekundenbruchteil bei ihr. Er streckte die Hand aus, um sie an der Schulter zu packen, zog sie aber rechtzeitig zurück. Dalusas lange dünne Arme zitterten vor Erschöpfung. Sie hielt ihr Gesicht - oder eigentlich ihre Maske - unter einem Flügel verborgen. Flack konnte nichts für sie tun. Seine medizinischen Kenntnisse waren nicht auf nichtmenschliche Lebewesen ausgedehnt.
»Holt der Dame ein Ruhelager«, ordnete Flack an. »Wasser. Ruhe.«
Das Allheilmittel eines Arztes für alles, was er nicht verstand. Ich nahm eine Decke von unserem Harpunier Blackburn, wickelte Dalusa behutsam darin ein und hob sie mühelos hoch. Sie wog vielleicht vierzig Pfund, das meiste davon waren Muskeln. Dalusas weiße, wohlgeformte Beine waren vorwiegend Zierde. Sie hatten die Gewebestruktur menschlichen Fleisches - mehr oder weniger -, aber sie waren nicht dichter als Kork.
Ich trug Dalusa zur Küche hinunter, drehte meine Matratze um, damit kein noch anhaftender Giftstoff sie erreichen konnte, und setzte sie ab. Sie zog ihre Maske vom Gesicht.
»Mit mir ist alles in Ordnung«, sagte sie. »Du hättest dir nicht soviel Umstände machen sollen.« Auf der Stelle schlief sie ein.
Hier konnte ich nichts mehr tun, also ging ich zurück an Deck.
Wir umschifften das Vorgebirge. Sofort packte uns der Wind, vom Bug war das Sandpapierrascheln kleinster Partikel zu hören. Die Segel füllten sich, die Brassen waren voll belastet, und die Lunglance hatte tatsächlich Schlagseite, für einen Trimaran mit ihrem Rumpf ein erstaunliches Kunststück. Desperandum wendete über den Wind und ging auf Steuerbordkurs.
Nördlich war ein gewaltiger Spalt im Fels. Vor fünfhundert Jahren war dort eine schmale Klippe gewesen, die den Nullaqua-Krater von einem kleineren Nebenkrater abtrennte, der jetzt die Glimmerbucht bildete. Diese Klippe hatte einen Riß gehabt. Der Glimmerkrater, der nur um Mittag Sonnenlicht erhielt, war viel kälter als der große Krater. Es entwickelte sich eine kalte Luftströmung, die durch die mitgeführten Teilchen Schmirgelwirkung hatte. Schon bald bildete sich ein natürlicher Felsbogen, an dem ein senkrechter Windwirbel entstand, heiße Luft oben, kalte unten. Zweihundert Jahre lang dehnte die Wölbung des Bogens sich aus.
Im zweihundertundsiebenunddreißigsten Jahr menschlicher Besiedlung auf Nullaqua stürzte der Fels mit einem Knall zusammen, der im ganzen Krater zu hören war. Die Vorsichtsmaßnahmen waren ungenügend. Tausend Tonnen Fels stürzten ins Meer, und die anschließende Springflut löschte fast die gesamte nullaquanische Flotte aus. Fünf Schiffe kamen davon: drei Fischerboote, die sich rein zufällig im Schutz der Hochinsel befunden hatten, ein einzelnes außer Dienst gestelltes Kriegsschiff auf den Drudenfuß-Inseln und ein Walfänger aus Bruchfuß. Auf Ausdauer gab es nicht ein einziges überlebendes Schiff. Ausdauer war ein Jahr zuvor im nullaquanischen Bürgerkrieg dem Erdboden gleichgemacht worden.
Das Jahr nach der Glimmerkatastrophe war als das Hungerjahr bekannt.
Die Lunglance steuerte so hart wie möglich in den Wind. Mr. Bogunheim stand an der Ruderpinne; die Segel wurden ein wenig angeluvt, und Desperandum tadelte den Mann abwesend. Der Kapitän starrte in die düstere Nische der Bucht, das Fernglas fest auf die Linsen seiner Staubmaske gepreßt.
Im Windschatten der Gegenstände auf Deck bildeten sich
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