Der Stechlin.
verirrter Geist. Und je patriotischer wir fühlen, je schmerzlicher berührt uns die Frage nach dem Heil seiner Seele. Die Seelenmessen - das empfind’ ich in solchem Augenblicke - sind doch eine wirklich trostspendende Seite des Katholizismus, und daß es (selbstverständlich unter Gewähr eines höchsten Willens) in die Macht Überlebender gelegt ist, eine Seele freizubeten, das ist und bleibt eine große Sache.«
»Nonne«, sagte Molchow, »machen Sie sich nicht komisch. Was haben Sie für ‘ne Vorstellung vom lieben Gott? Wenn Sie kommen und den Alten Fritzen freibeten wollen, werden Sie rausgeschmissen.«
Baron Beetz - auch ein Anzweifler des Philosophen von Sanssouci - wollte seinem Freunde Nonne zu Hilfe kommen und erwog einen Augenblick ernstlich, ob er nicht seinen in der ganzen Grafschaft längst bekannten Vortrag über die »schiefe Ebene« oder »c’est le premier pas qui coûte« noch einmal zum besten geben solle. Klugerweise jedoch ließ er es wieder fallen und war einverstanden, als Dubslav sagte: »Meine Herren, ich meinerseits schlage vor, daß wir unsern Auslug von dem Wackelstege, drauf wir hier stehen (jeden Augenblick kann einer von uns ins Wasser fallen), endlich aufgeben und uns lieber in einem der hier herumliegenden Kähne über den See setzen lassen. Unterwegs, wenn noch welche da sind, können wir Teichrosen pflücken und drüben am andern Ufer den großen Prinz-Heinrich-Obelisken mit seinen französischen Inschriften durchstudieren. Solche Rekapitulation stärkt einen immer historisch und patriotisch, und unser Etappenfranzösisch kommt auch wieder zu Kräften.«
Alle waren einverstanden, selbst Nonne.
Gegen vier war man von dem Ausfluge zurück und hielt wieder vor dem »Prinzregenten«, auf einem mit alten Bäumen besetzten Platz, der wegen seiner Dreiecksform schon von alter Zeit her den Namen »Triangelplatz« führte. Die Wahlresultate lagen noch keineswegs sicher vor; es ließ sich aber schon ziemlich deutlich erkennen, daß viele Fortschrittlerstimmen auf den sozialdemokratischen Kandidaten, Feilenhauer Torgelow, übergehen würden, der, trotzdem er nicht persönlich zugegen war, die kleinen Leute hinter sich hatte. Hunderte seiner Parteigenossen standen in Gruppen auf dem Triangelplatz umher und unterhielten sich lachend über die Wahlreden, die während der letzten Tage teils in Rheinsberg und Wutz, teils auf dem platten Lande von Rednern der gegnerischen Parteien gehalten worden waren. Einer der mit unter den Bäumen Stehenden, ein Intimus Torgelows, war der Drechslergeselle Söderkopp, der sich schon lediglich in seiner Eigenschaft als Drechslergeselle eines großen Ansehns erfreute. Jeder dachte: der kann auch noch mal Bebel werden. »Warum nicht? Bebel is alt, und dann haben wir den.« Aber Söderkopp verstand es auch wirklich, die Leute zu packen. Am schärfsten ging er gegen Gundermann vor. »Ja, dieser Gundermann, den kenn’ ich. Brettschneider und Börsenfilou; jeder Groschen is zusammengejobbert. Sieben Mühlen hat er, aber bloß zwei Redensarten, und der Fortschritt ist abwechselnd die ›Vorfrucht‹ und dann wieder der ›Vater‹ der Sozialdemokratie. Vielleicht stammen wir auch noch von Gundermann ab. So einer bringt alles fertig.«
Uncke, während Söderkopp so sprach, war von Baum zu Baum immer näher gerückt und machte seine Notizen. In weiterer Entfernung stand Pyterke, schmunzelnd und sichtlich verwundert, was Uncke wieder alles aufzuschreiben habe.
Pyterkes Verwunderung über das »Aufschreiben« war nur zu berechtigt, aber sie wär’ es um ein gut Teil weniger gewesen, wenn sich Unckes aufhorchender Diensteifer statt dem Sozialdemokraten Söderkopp lieber dem Gespräch einer nebenstehenden Gruppe zugewandt hätte. Hier plauderten nämlich mehrere »Staatserhaltende« von dem mutmaßlichen Ausgange der Wahl, und daß es mit dem Siege des alten Stechlin von Minute zu Minute schlechter stünde. Besonders die Rheinsberger schienen den Ausschlag zu seinen Ungunsten geben zu sollen.
»Hole der Teufel das ganze Rheinsberg!« verschwor sich ein alter Herr von Kraatz, dessen roter Kopf, während er so sprach, immer röter wurde. »Dies elende Nest! Wir bringen ihn wahr und wahrhaftig nicht durch, unsern guten alten Stechlin. Und was das sagen will, das wissen wir. Wer gegen uns stimmt, stimmt auch gegen den König. Das ist all eins. Das ist das, was man jetzt solidarisch nennt.«
»Ja, Kraatz«, nahm Molchow, an den sich diese Rede vorzugsweise gerichtet
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