Der Stein der Könige 1 - Quell der Finsternis
war schon lange zerbrochen; Emillia hatte einen der Diener mit einer großen Scherbe angegriffen. Helmos versuchte, so leise zu sein, wie er konnte, denn er hoffte, die Aufmerksamkeit seiner Frau auf sich lenken zu können, ohne die Königinmutter zu stören, aber beim Klang seiner Schritte drehte sich Emillia schnell um.
Sie bot einen jämmerlichen Anblick. Das Haar stand ihr wirr vom Kopf ab, weil sie ständig daran zupfte und befahl, dass man es aufstecken sollte, um es dann hundertmal am Tag wieder zu lösen. Ihr Körper wirkte ausgetrocknet und geschrumpft. Man musste sie zum Essen zwingen, musste sie füttern wie ein kleines Kind. Als sie Helmos nun anstarrte, lagen ihre Augen tief in den Höhlen ihres Totenschädelgesichts.
Sie sah aus, dachte Helmos, wie ihr Sohn ausgesehen hatte, nachdem er im heiligen Feuer verkohlt war.
»Dagnarus?«, rief sie und spähte ins Dunkel. »Dagnarus? Wo steckt der Junge nur? Es ist wirklich Zeit, dass er seine Mutter besucht! Ich habe nach ihm geschickt, aber er ist offenbar entschlossen, mich zu ignorieren. Wir werden ihm eine Lektion erteilen müssen. Wo ist der Prügelknabe?« Die Königinmutter richtete sich ruckartig auf. »Du da!« Sie hatte Helmos erspäht. »Schick den Prügelknaben her. Ich werde ihn halb tot peitschen lassen. Das wird meinem Sohn Manieren beibringen.«
»Jawohl, Euer Majestät«, erwiderte Helmos. Die einzige Möglichkeit, mit Emillia zurechtzukommen, bestand nach Ansicht der Heiler darin, ihr scheinbar ihren Willen zu lassen. Schon der kleinste Strahl von Realität, der durch einen Riss in ihrem ummauerten Geist schlüpfte, könnte zu viel für sie sein. Nur Zeit und Geduld würden Heilung bringen und sie aus der Zelle herausführen, in die sie geflohen war, um sich vor ihrem Schmerz zu schützen. »Man wird den Prügelknaben zu Euch schicken, wie Ihr befehlt.«
Helmos winkte seiner Frau zu, die neben der Königinmutter saß – eine Pflicht, der sie sich jeden Tag für mehrere Stunden unterzog, um sich um Emillias verrückte Launen zu kümmern und mitleidig ihrem jämmerlichen Geschwätz zuzuhören. Anna legte die Hand liebevoll auf Emillias welke Hand. Sie erhob sich und verbeugte sich vor Emillia, als wäre diese immer noch die Königin und Anna nur eine weitere Hofdame. Die Heilerin nahm ihren Platz ein.
»Ihr solltet einen Schluck Wasser trinken, Euer Majestät«, sagte die Heilerin und hielt Emillia einen Holzbecher hin.
Die Königinmutter schlug nach dem Becher, und Wasser spritzte auf ihr Gewand.
Geduldig hob die Heilerin den Becher auf, füllte ihn abermals und bot ihn Emillia wieder an.
»Ich hatte keine Ahnung, dass es mit ihr so schlecht steht«, sagte Helmos leise zu seiner Frau.
Anna nickte. »Es scheint, als würde es jeden Tag ein wenig schlimmer. Die Heiler behaupten auch nicht mehr, dass die Zeit sie wieder gesund machen wird. Sie wollen sie in die Halle der Heiler bringen, aber ich fürchte, die plötzliche Veränderung würde sie umbringen.«
»Aber es ist eine schwere Last für dich, dich um sie zu kümmern, meine Liebste«, sagte Helmos und zog seine Frau an sich.
»Es ist nicht so schlimm«, sagte Anna und lächelte mit gespielter Fröhlichkeit. »Sie ist recht umgänglich, wenn ich bei ihr bin. Die Heiler sagen, ich hätte einen guten Einfluss auf sie. Ich bin die Einzige, die sie dazu überreden kann, etwas zu sich zu nehmen.«
»Du wirst sie einen Augenblick lang allein lassen müssen«, meinte Helmos. »Ich brauche dich jetzt.«
»Ja. Selbstverständlich«, erwiderte Anna besorgt. »Was ist denn? Ich habe gehört…« Sie hielt einen Augenblick lang inne und strengte sich an, die Ruhe zu bewahren. »Ich habe gehört, dass Dagnarus' Armee vor der Nordmauer steht.«
»Ja«, antwortete Helmos. »Hauptmann Argot sagt, sie werden im Morgengrauen angreifen.«
Die beiden gingen schweigend den langen Flur entlang, ihr Arm unter seinen gehakt, im gleichen Schritt. Die leeren Rüstungen bildeten eine stille Ehrengarde für König und Königin, bis plötzlich auf halbem Weg einer der Speere dem rostigen Griff seines Ritters entglitt und mit ohrenbetäubendem Scheppern beinahe direkt vor die Füße des Königs fiel.
Helmos blieb stehen und starrte den Speer an. Er war so bleich geworden, als hätte die Waffe ihn getroffen. Anna keuchte auf und drückte sich die Hand auf ihr wild schlagendes Herz.
Das Scheppern hallte laut in dem stillen Palast wider und bewirkte, dass Diener und Wachen herbeieilten.
»Euer
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