Der Stein der Könige 1 - Quell der Finsternis
Majestät!« Die Wachen hatten ihre Schwerter gezogen und suchten nach einem Feind. »Ist alles in Ordnung? Wo ist der Angreifer?«
»Hier«, sagte Helmos mit angespanntem Lächeln. »Ihr seht, dass wir gesegnet sind! Die Geister dieser lange verstorbenen Ritter sind zurückgekehrt und warten nur darauf, dass der Kampf beginnt!«
Die Wachen nickten anerkennend, erfreut über die Worte des Königs. Ein Diener hob den Speer auf und versuchte, ihn zurückzustecken, aber die metallene Hand war so verrostet, dass sie ihn nicht mehr halten wollte. Auf ein Zeichen der Königin hin lehnte der Diener den Speer einfach gegen die Wand und zog sich eilig zurück.
Anna hatte bemerkt, wie blass ihr Mann geworden war. »Liebster, was ist denn?«
»Wenn ich ein Ork wäre«, erkläre Helmos und starrte den Speer an, »würde ich jetzt zu meinem Schiff rennen und in See stechen.«
»Aber du bist kein Ork«, stellte Anna pragmatisch fest. »Du weißt, dass der Handschuh verrostet war und unsere Schritte eine Erschütterung bewirkt haben, die dazu führte, dass der Speer auf den Boden fiel.«
Sie hoffte, ihn lächeln oder gar lachen zu sehen, aber er blieb ernst.
»Mein Herz ist seltsam schwer«, sagte Helmos leise. »Ich bin heute durch den Palast gegangen, und es kam mir so vor, als wäre ich zum letzten Mal hier. Nein, nein, meine Liebe. Lass mich ausreden. Es heißt, wenn ein Mann stirbt, zieht sein Leben noch einmal an ihm vorbei. Ich habe mein Leben heute gesehen. Ich habe meine Mutter gesehen, Anna«, sagte er mit liebevoller, gequälter Stimme. »Ich sah sie an einem Fenster stehen. Sie hat sich umgedreht und mir zugelächelt, aber als ich etwas sagte, war sie verschwunden. Ich kam am Spielzimmer vorbei, und etwas trieb mich dazu hineinzuschauen, und ich sah mich selbst dort – wieder ein Junge, zusammen mit meinem Lehrer. Und dann war Dagnarus da, mit diesem elenden Prügelknaben. Ich konnte ihr Lachen hören und sehen, wie Dagnarus seine Spielzeugsoldaten im Sandkasten aufmarschieren ließ.
Und mein Vater. Mein Vater hat mich den ganzen Tag begleitet. Er sieht mich so traurig an, als wollte er mir etwas sagen oder erklären. Es ist seltsam, aber ich habe das Gefühl, er will, dass ich ihm verzeihe. Als hätte er je etwas getan, das Verzeihung brauchte! Und du, meine Herzallerliebste.« Er blieb stehen, wandte sich ihr zu, griff nach ihren Händen und wischte die Tränen weg, die ihr über die Wangen liefen. »Du bist Traum und wunderbare Wirklichkeit zugleich.«
Er küsste sie auf die Stirn, als wollte er sie segnen.
Sie konnte lange Zeit nicht sprechen, dann verdrängte sie ihre Angst und sagte: »Du hast drei Nächte lang nicht geschlafen. Du hast auch kaum etwas gegessen. Es ist kein Wunder, dass du von seltsamen Visionen heimgesucht wirst. Ich wette«, meinte sie mit einem zittrigen Lachen, »dass ein gutes Stück Braten sie alle verscheuchen würde!«
Da lächelte Helmos – seine Liebe zu ihr hob die schreckliche Finsternis von seinem Herzen. Er drückte sie an sich. »Ich bin auf dem Weg zum Tempel, um mich auf meine heilige Wache vorzubereiten. Ich wollte mich von dir verabschieden und dich noch einmal drängen, die Stadt zu verlassen.« Er nahm ihr Gesicht in beide Hände, sodass sie ihm in die Augen schauen musste. »Es ist noch nicht zu spät. Es gibt einen unterirdischen Gang, der zu einem geheimen Ausgang in den Bergen führt. Ein paar ausgewählte Soldaten stehen bereit, dich zu eskortieren…«
Anna schüttelte den Kopf. »Ich werde nicht fliehen«, erklärte sie mit fester Stimme. »Und du weißt, dass ich es nicht tun werde, also versuche nicht, mich zu überreden. Ich werde bei der armen Emillia bleiben. Der Lärm und die Unruhe könnten sie verstören. Ich vertraue auf die Götter. Und auf dich.«
Sie klammerten sich aneinander, wollten sich nicht trennen, aber beide wurden zu der Erfüllung einer schweren Pflicht gerufen. Helmos strich seiner Frau übers Haar und schaute den Flur entlang. Die Diener entzündeten die Fackeln, und in ihrem flackernden Licht sah Helmos, wie jeder Einzelne der leeren Ritter das Visier hob, und die Finsternis der Leere ergoss sich aus ihnen wie ein Fluss.
Die Armee, die Dagnarus anführte, marschierte durchs Gebirge, verborgen von dem Unwetter, das seine Zauberer heraufbeschworen hatten. Ihr Weg wurde von den Blitzen beleuchtet, die rings um sie her einschlugen, aber nie in ihrer Mitte. Sie marschierten zum Trommelschlag des Donners und von solch dichtem Nebel
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