Der Stein der Könige 2 - Der junge Ritter
als Staub, nicht wahr?«
»Ja«, bestätigte Jessan verblüfft. »Aber woher – «
»Woher ich das weiß? Ich kenne mich mit Vrykyl aus. Zu meinem Bedauern kenne ich mich mit ihnen aus. Ein Vrykyl ist kein lebendes Wesen, Jessan. Ein Vrykyl ist tot, und das vielleicht schon seit Hunderten von Jahren. Ein Vrykyl ist eine Leiche, die durch die Magie der Leere so etwas wie Leben erhalten hat, und diese Magie wird durch die schwarze Rüstung verkörpert. Rüstung und Vrykyl können nicht voneinander getrennt werden, genauso wenig, wie man Euch von Eurem eigenen Fleisch trennen könnte. Wenn der Vrykyl zerstört wird, zerfällt die Leiche zu Staub. Die Rüstung behält das Wesen des Vrykyl, die Magie der Leere.«
Jessan war entsetzt. »Was kann meinem Onkel geschehen?«, fragte er ängstlich.
»Ich weiß es nicht«, gab Arim zu. »Ich habe noch nie von jemandem gehört, der es gewagt hätte, die Rüstung eines Vrykyl zu nehmen.«
Dann bemerkte er, wie verzweifelt Jessan war. »Euer Onkel ist ein starker Krieger und ein vernünftiger Mann. Wir wollen glauben, dass er eine Möglichkeit gefunden hat, die verfluchte Rüstung loszuwerden.«
»Aber wenn nicht?«, fragte Jessan und riss sich los. »Was könnte sie ihm antun?«
Jessan war unter der gebräunten Haut bleich geworden, sein Blick gehetzt. Er hatte Angst, und Arim begriff plötzlich, dass er nicht nur um seinen Onkel fürchtete.
»Die Rüstung ist ein Artefakt der Leere. Sie könnte die Aufmerksamkeit eines anderen Vrykyl auf Euren Onkel ziehen. Oder Euren Onkel zu einem dieser Geschöpfe locken.«
Jessan schloss die Augen und lehnte sich gegen den Türrahmen, denn plötzlich waren seine Knie weich geworden.
»Was habe ich nur getan?«, murmelte er.
Arim war erschrocken, aber er blieb äußerlich ruhig. »Was habt Ihr getan? Habt Ihr«, – er hielt inne und überlegte, wie er es am besten formulieren sollte – »habt Ihr dem Vrykyl noch etwas anderes abgenommen? Etwas, was Ihr für Euch behalten habt?«
»Sagt mir«, fragte Jessan mit einem letzten, tiefen, schaudernden Seufzen, »haben diese Vrykyl… Augen aus Feuer?«
»Zeigt es mir, Jessan«, sagte Arim leise.
Es fühlte sich an, als könnte Jessan seine Finger nicht mehr richtig beherrschen. Er nestelte an der Messerscheide herum, konnte sie kaum öffnen. Seine Hand zitterte. Er ballte die Faust und nahm sich mit großer Anstrengung zusammen, dann holte er das Knochenmesser heraus und hielt es in der Hand. Er hatte es einmal für schlank und elegant gehalten. Nun sah es schauerlich aus.
Bashae schnappte nach Luft und wich zurück, so weit vom Messer weg, wie er konnte. Arim versuchte nicht, das Messer zu berühren. Er besah es, dann blickte er Jessan an, flüsterte ein Stoßgebet auf Nimoreanisch und riss Jessan von der Tür weg. Er lehnte sich kurz aus der Tür und sah sich auf der Straße um. Dann schloss er die Tür, verriegelte sie und lehnte sich mit dem Rücken dagegen.
»Wisst Ihr, was Ihr da habt, Jessan?«, fragte Arim und begriff in dem Augenblick, als er die Frage stellte, das der junge Krieger das selbstverständlich nicht wusste. Für ihn war das ein Messer, und nichts weiter. Die Leere nutzte solche Unschuld gerne aus. »Die Vrykyl erhalten ihre unheilige Existenz, indem sie die Seelen der Lebenden verschlingen. Dieses Messer, das Ihr da habt, nennt man ein Blutmesser. Wenn ein Opfer von der Leere aufgenommen und in einen Vrykyl verwandelt wurde, besteht die erste Tat des Vrykyl darin, ein Messer herzustellen… und zwar aus seinem eigenen Knochen.«
Jessan starrte das Messer entsetzt an. Aber begriff er wirklich?
»Sie benutzen dieses Messer, um zu töten«, sprach Arim gnadenlos weiter. »Sie stehlen damit die Seelen ihrer Opfer.«
Arim wollte den jungen Mann nicht weiter quälen, aber er musste Jessan begreiflich machen, was er getan hatte. »Außerdem benutzen die Vrykyl diese Messer, um sich untereinander auszutauschen, um in Verbindung zu bleiben. Sie können durch das Messer miteinander sprechen. Jessan, habt Ihr mit diesem Messer getötet?«
»Keine Menschen«, sagte Jessan erschüttert. Schweiß durchtränkte sein Lederhemd. Er wischte sich die Stirn ab. »Ich habe es nicht gewusst. Wie hätte ich es wissen sollen?«
»Aber wie hat es sich angefühlt?«, drängte Arim weiter.
»Ich habe ein Kaninchen getötet…« Jessan keuchte und sah sich um, als würde er am liebsten durch die Mauern brechen. »Und Fische. Und seitdem haben die Augen nach mir gesucht. Augen aus
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