Der Stein der Könige 2 - Der junge Ritter
seinen Freund auf der anderen Seite des heiligen Kreises entdeckte.
Jessan hatte ein paar Lederstücke in der Hand. Bashae lief um den Kreis herum zu ihm.
»Wohin wolltest du?«
»Ich habe dich gesucht«, antwortete Jessan und blieb stehen. Er warf einen bedauernden Blick auf die Lederstücke. »Ich will mir Hosen nähen, die ich auf der Reise nach Dunkar tragen kann, aber ich bin zu ungeschickt. Ich habe schon zwei Nadeln zerbrochen, und nun wollte ich wissen, ob du noch welche übrig hast.«
»Du wolltest wissen, ob ich Palea bitten würde, sie für dich zu nähen«, erwiderte Bashae grinsend. »Warum hättest du sie sonst mitgebracht? Mach dir keine Gedanken, sie wird es schon tun. Ich gehe mit dir zu ihr. Aber zuerst muss ich unseren Ritter besuchen. Du solltest ihm ebenfalls deinen Respekt erweisen.« Und dann fügte er leiser hinzu: »Oder dich verabschieden.«
»Ich habe nicht viel Zeit«, meinte Jessan mit einem Blick zum Heilerhaus. Dann wurde seine Miene ernst. Er dachte an den tapferen Mann, der dort drinnen lag. Verglichen mit ihm hatte Jessan alle Zeit der Welt. »Aber einen Moment habe ich schon noch. Ich komme.«
Sie gingen um den heiligen Kreis herum zum Heilerhaus. Sie blieben vor der Tür stehen, weil die Gegenwart des Todes sie beunruhigte.
»Sollen wir rufen?«, fragte Jessan leise.
»Lieber nicht, vielleicht schläft er ja«, entgegnete Bashae. »Wir schleichen uns einfach leise rein und sehen, wie es ihm geht.«
Bashae legte die Hand auf die Decke, die vor der Tür hing. Er schob sie beiseite. Leise betrat er das Haus. Jessan folgte ihm auf dem Fuß.
»Ah«, sagte die Großmutter. »Die Auserwählten.«
Gustav war ein frommer Mensch und wollte die Entscheidung der Götter nicht in Frage stellen, aber er war schon der Ansicht, dass die Götter vielleicht eine vernünftigere Entscheidung hätten treffen können. Warum hatten sie ausgerechnet zwei so junge Männer für einen solch wichtigen Auftrag ausgewählt, zumal eine ganze Anzahl älterer und erfahrener Krieger zur Verfügung stand?
»Auserwählt? Auserwählt für was, Großmutter?«, fragte Bashae, der verständlicherweise verwirrt war.
Die Großmutter spähte unter ihren geröteten Lidern mit blitzenden Augen zu Gustav hin. Der Ritter sah die beiden jungen Männer, die nun respektvoll schweigend vor ihm standen, lange an, und in diesem Augenblick begann er die Weisheit der Götter zu begreifen.
Wer immer nach dem Stein der Könige suchte, welche Intelligenz auch immer zu diesen Augen gehörte, die ihn in seinen Träumen heimsuchten, würde genau nach diesen älteren, ausgebildeten und erfahrenen Kriegern suchen und die dummen Jungen vielleicht nicht bemerken.
Es gab auch noch andere Gründe. Als er so alt gewesen war wie diese beiden hier, war Gustav ein erfahrener Dieb auf den Straßen von Neu-Vinnengael gewesen. Er hatte seine Jugend zu seinem Vorteil genutzt und eine Unschuld vorgetäuscht, die er tatsächlich schon im Alter von sechs Jahren verloren hatte.
Den Stein der Könige zum Rat der Paladine zu bringen, wäre für Gustav ein gefährlicher Auftrag gewesen. Aber der gleiche Auftrag mochte sich für diese jungen Männer als überhaupt nicht schwierig erweisen, denn man würde sicher niemals vermuten, dass sie ein verloren geglaubtes Artefakt von solch ungeheuerlichem Wert besäßen. Gustav würde ihnen nicht einmal sagen müssen, was sie da wirklich mit sich herumschleppten. Sie brauchten nur einen unauffälligen Rucksack ins Elfenreich zu bringen und ihn einer bestimmten Person zu überreichen.
Gustav wusste, dass die beiden Mut hatten. Beide hatten sich in dem Kampf mit dem Vrykyl gut geschlagen. Sie hatten schnell und vernünftig reagiert, indem sie ihn zu ihrem Dorf gebracht hatten, oder zumindest hatte die Großmutter ihm das erzählt, und er hatte keinen Grund, ihre Worte zu bezweifeln. Dennoch, den jungen Leuten fehlte die Erfahrung und die Weisheit des Alters. Sie neigten dazu, übereilt zu handeln und bittere Lehren erst später zu beherzigen.
»Auserwählt wozu, Großmutter?«, wiederholte Bashae und runzelte die Stirn. »Ich verstehe nicht – «
»Still!«, unterbrach sie ihn.
Die Großmutter wandte sich Gustav zu. »Wirst du es tun, Herr Ritter?«
Gustav sah die jungen Männer einen nach dem anderen an und versuchte, in ihre Herzen zu schauen. Er hatte sich in diesen siebzig Jahren zu einem guten Menschenkenner entwickelt, und er war zufrieden mit dem, was er vor sich sah. Diese beiden Jungen hatten
Weitere Kostenlose Bücher