Der Stein der Könige 2 - Der junge Ritter
wollte er friedlich in den Tod davongleiten, aber plötzlich riss er die Augen auf. Er gab einen gequälten, heiseren Schrei von sich. Zuckungen schüttelten seinen Körper.
»Das Böse will ihn in die Leere ziehen«, erklärte die Großmutter.
Die Ältesten sahen ruhig zu. Die Großmutter hatte sie darum gebeten, sich auf diesen Kampf vorzubereiten. Aus diesem Grund hatten sie die Geister beschworen. Legionen toter Trevinici-Helden umgaben nun den Ritter und kämpften gegen die Leere um seine Seele.
Die Schlacht war hart und heftig, aber bald vorüber. Der Ritter keuchte mit bebender Stimme auf, dann entspannte er sich. Die Falten von Angst und Qual verschwanden aus seinem Gesicht. Er öffnete die Augen. Er hob die Hände.
»Adela«, sagte er, und dieser Atemzug, mit dem er ihren Namen aussprach, war sein letzter.
Die Großmutter schloss seine Augen, in denen der Funke des Lebens nicht mehr glühte.
»Es ist vorbei«, sagte sie und fügte zufrieden hinzu. »Wir haben gesiegt.«
Noch in derselben Nacht wurde Gustavs Leiche im Sternenlicht von sechs starken Kriegern dorthin getragen, wo die Trevinici die Toten der Erde zurückgaben. Man bettete ihn neben anderen Trevinici-Kriegern zur letzten Ruhe – eine große Ehre für den Ritter. Am nächsten Tag erschien das ganze Dorf, um sich von den Reisenden zu verabschieden. Es liegt den Trevinici nicht, zu schmollen oder zu jammern, wenn etwas nicht sein kann. Als Jessan an diesem Morgen aufstand und sich für die Reise vorbereitete, war er in bester Stimmung und freute sich darauf, fremde Länder zu sehen. Er reiste mit leichtem Gepäck, würde nur seinen Bogen mitnehmen, den er mit Rabes Anleitung selbst hergestellt hatte, die Pfeile mit ihren neuen Stahlspitzen, ein paar Vorräte, einen Wasserschlauch und sein Jagdmesser.
Er fegte das Haus seines Onkels noch einmal, rollte die Decken ordentlich zusammen und stapelte sie an der Wand auf. Nachdem er das erledigt hatte, blieb ihm nur noch eins zu tun, bevor er sich mit seinen Mitreisenden traf. Er biss die Zähne zusammen und machte sich auf den Weg, um sich von seiner Tante zu verabschieden. Er hegte keinerlei Zweifel daran, dass sie etwas Schreckliches sagen würde, genau wie zu seinem Onkel zuvor, und dass er diese Reise mit dem schlechten Nachgeschmack ihrer bösen Worte in seinem Mund antreten würde. Indem er sie in ihrem Haus aufsuchte, hoffte er, sich die öffentliche Demütigung zu ersparen, die Rabenschwinge hatte hinnehmen müssen.
»Tante Ranessa«, rief er, als er vor ihrem Haus stand.
Niemand antwortete von drinnen.
Jessan wartete einen Augenblick, Hoffnung stieg in seinem Herzen auf. Er rief abermals, und es war immer noch still. Er schob die Decke beiseite und hoffte, er würde nichts Unangenehmes zu sehen bekommen, als er den Kopf ins Haus streckte. Der Geruch nach Fäulnis und Verfall ließ ihn würgen. Er sah sich rasch um. Ranessa war nicht da. Er hatte keine Ahnung, wohin sie gegangen sein mochte. Wahrscheinlich auf einen ihrer langen Spaziergänge. Er ging eilig weiter. Er hatte seine Pflicht erfüllt. Niemand würde etwas anderes behaupten können.
Er sollte Bashae und die Großmutter nahe dem heiligen Steinkreis treffen. Als er sich seinem Ziel näherte, hörte er ein solch lautes Jammern und Weinen, dass er sich fragte, wer außer dem Ritter noch gestorben sein mochte. Er beschleunigte seine Schritte und eilte beinahe im Laufschritt zum Steinkreis, nur um zu entdecken, dass das Jammern von den Pecwae kam, die die Abreise der Großmutter beweinten und sie anflehten zu bleiben.
Über eine Masse schluchzender Pecwae hinweg, die drohten, sie in ihrer Trauer zu ertränken, war nur der graue Hinterkopf der Großmutter zu erkennen. Auch die Trevinici-Ältesten waren anwesend und wechselten amüsierte Blicke. Bashae war ebenfalls da. Er stand ein wenig von der Menge entfernt und schaute verlegen drein. Seine Verlegenheit wurde noch größer, als Jessan auftauchte. Auch der Zwerg Wolfram war gekommen und betrachtete die Szene grinsend.
»Was ist denn los?«, wollte Jessan leise wissen, und er spürte, wie eine unangenehme Wärme in seinem Nacken begann und sich über sein Gesicht ausbreitete.
»Es tut mir Leid, Jessan«, sagte Bashae, der ebenfalls rot angelaufen war. »Es ist nicht meine Schuld. Die Großmutter befürchtete schon, dass so etwas passieren würde, und wir haben versucht, uns davonzuschleichen, bevor alle wach waren – nur dass die Großmutter sich nicht sonderlich leise
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