Der Stein der Könige 2 - Der junge Ritter
dort stand und die Leiche anstarrte, standen mir die Ereignisse jener schrecklichen Nacht wieder mit solcher Intensität vor Augen, dass es mir vorkam, als würde ich sie alle noch einmal durchleben. Und als die Erinnerung zu verblassen begann, sprach eine Stimme zu mir. ›Mein Prinz‹, sagte die Stimme, und ich erkannte sie. Es war Gareth, der da sprach.«
»Ein Wachtraum, Herr«, warf Shakur ein, dem nicht gefiel, wohin das führen würde. »Ihr hattet an ihn gedacht. Also habt Ihr Euch vorgestellt, ihn zu hören.«
»Das dachte ich ebenfalls«, sagte Dagnarus. »Das hoffte ich – von ganzem Herzen. Es macht mir nichts aus, es dir gegenüber zuzugeben, Shakur: Als ich hörte, wie seine Stimme aus dem Grab zu mir sprach, ist mir beinahe das Blut geronnen. Ich habe nie zu denen gehört, die einen Blick zurückwerfen. Was geschehen ist, ist geschehen. Der Starke schaut vorwärts und nie zurück. Dennoch, manchmal schaue ich zurück, ohne es zu wollen, und dann sehe ich den Tadel in Gareths Augen. Ich sehe sein Blut an der Wand und sein Lebenslicht vergehen. Von allen, die ich kannte, war er allein mir treu. Er hat Besseres verdient.«
»Er war ein Verräter, Herr, ein Feigling und ein Wiesel«, sagte Shakur barsch. »Welche Strafen Ihr ihm auch erteilt habt, er hat sie wohl verdient.«
»Ach ja? Nun, vielleicht hast du Recht.« Dagnarus' Versunkenheit endete abrupt. »Wie dem auch sei, die Stimme war nicht meiner Phantasie entsprungen. Dort in den Ruinen des Tempels der Magier ist mir Gareths Geist erschienen.«
»Und was hatte dieser Geist zu sagen, Herr?«
»Ein paar sehr interessante Dinge, Shakur, also solltest du dir deinen spöttischen Ton verkneifen. Ich fragte ihn, warum er weiter in der Welt geblieben war und nicht die wohlverdiente Ruhe suchte.
›Mein Geist ist so mit Eurem verbunden, mein Prinz, dass er nicht frei ist, zu gehen, bis Euer Geist frei von der Leere oder vollkommen davon verschlungen ist.‹
›Weißt du, was seitdem in der Welt geschehen ist?‹, fragte ich ihn.
›Ja, mein Prinz.‹
›Weißt du, wo ich den Teil des Steins der Könige finden kann, der den Menschen gegeben wurde?‹
›Nein, mein Prinz. Der Stein befindet sich irgendwo, wo ich ihn nicht sehen kann. Tatsächlich glaube ich, dass die Götter ihn vor mir verbergen. Ich habe allerdings etwas anderes entdeckt, das Euch interessieren könnte.‹
›Du warst ein treuer Freund, Gareth, und du bist weiterhin einer. Was hast du entdeckt?‹
›Alle glauben, dass das Portal der Götter ebenso zerschmettert wurde wie die anderen Portale. Sie haben Unrecht. Das Portal zu den Göttern ist heil geblieben.‹
Gareths Geist zeigte in die Richtung, wo das Portal einmal gestanden hatte, Shakur. Die Tür war eingestürzt. Ich konnte nur Ruinen sehen. Weil ich dennoch seine Worte überprüfen wollte, ging ich in diese Richtung. Ich hatte erst ein paar Schritte hinter mich gebracht, als ich den Zorn der Götter spürte wie den heißen Wind eines tobenden Feuers.
›Was bedeutet mir das schon?‹, fragte ich. ›Es interessiert mich nicht, was die Götter tun oder denken.‹
›Es könnte alles für Euch bedeuten‹, erwiderte Gareth. ›Wenn jemand das Portal betritt und alle vier Teile des Steins der Könige in Händen hält, dann wird sich der Stein wieder zusammenfügen lassen. Vier werden wieder eins sein.‹
›Und einer wird vier beherrschen!‹, sagte ich.
›Davon weiß ich nichts‹, erklärte Gareth verbittert. ›Die Götter sprechen nicht mehr mit mir. Ich wurde aus ihrer gesegneten Präsenz verbannt, so entsetzlich waren meine Verbrechen. Aber eines weiß ich: Ihr seid nun die einzige Person in Loerem, die die Macht hat, die vier Teile des Steins wieder zusammenzubringen.‹
›Nun denn‹, erwiderte ich, ›was sonst kann das zu bedeuten haben, als dass mir bestimmt ist, über die anderen zu herrschen.‹«
Shakur schwieg, aber Dagnarus konnte sein Schweigen hören.
»Ich bin nicht dumm, Shakur. Ich war selbst skeptisch. ›Sag mir eins, Meister Prügelknabe‹, forderte ich, ›wenn die Götter nicht mehr mit dir sprechen, wie hast du das alles herausgefunden?‹
Er wollte mir nicht antworten. Er versuchte, meiner Frage auszuweichen. Ich benutzte die Macht der Leere, bedrängte ihn, und am Ende hatte sein Geist unter dem Zwang der Leere keine andere Möglichkeit als zu antworten.
›Euer Bruder hat es mir gesagt‹, meinte er schließlich. ›Helmos. Er hat es mir gesagt, als er im Sterben lag‹
›Du
Weitere Kostenlose Bücher