Der Stein der Könige 3 - Die Pforten der Dunkelheit
Er schaute in die Augen des Lords der Leere.
Er hatte erwartet, dort das Nichts der Leere zu erblicken. Stattdessen sah er den Schatten eines Schmerzes, den auch zweihundert Jahre nicht verringert hatten. Rigiswald sah Menschlichkeit in diesen Augen, und das tat ihm zutiefst Leid. Die hohle Leere des Todes zu sehen wäre schrecklich genug gewesen, aber dieser Klugheit und dieser Sehnsucht bei weitem vorzuziehen – der Wärme und Üppigkeit des Lebens.
»Ihr glaubt mir also, alter Herr?«, fragte Dagnarus spielerisch, aber wenn man ihm in die Augen sah, wusste man, wie ernst er das meinte.
»Ich glaube Euch«, sagte Rigiswald und fügte schlicht hinzu: »Sehr zu meinem Kummer.«
Dagnarus störte sich nicht daran. Er schien das Gespräch zu genießen und hätte es offenbar gern fortgesetzt, aber inzwischen war die Ruhe wiederhergestellt. Die Regentin ergriff erneut das Wort, und Dagnarus wandte ihr seine volle Aufmerksamkeit zu.
»Dieser Anspruch ist lächerlich«, erklärte Clovis. »Ich sollte ihn nicht einmal mit dem Versuch würdigen, ihn abzuweisen, aber ich werde um der Vollständigkeit willen einige Argumente anführen: Der echte Dagnarus wäre nun über zweihundert Jahre alt, der echte Dagnarus wurde zweifellos bei der Zerstörung der Stadt getötet, die er selbst bewerkstelligt hatte, der echte Dagnarus …«
»Verzeiht mir, Ehrenwerteste Hohe Magierin«, unterbrach Dagnarus die Regentin. »Wenn ich meinen Anspruch beweisen könnte – unwiderlegbar beweisen –, würde das genügen?«
Rigiswald schaute von Dagnarus zu dem jungen Hirav hin, und plötzlich wusste er, wie die beiden es anstellen würden. Er wusste es so sicher, als hätten sie ihm ihre Pläne enthüllt.
Er wusste es, und er konnte nichts dagegen tun, denn niemand würde ihm glauben.
Die Regentin öffnete den Mund.
Tu es nicht, Clovis, warnte Rigiswald sie im Geist. Spiel einfach nicht mit. Frage ihn nach den Bedingungen für den Abzug seiner Armee, dann verweigere sie ihm und wirf ihn aus der Stadt. Wir sollten besser alle sterben und die Stadt dem Erdboden gleich gemacht werden, als dass du uns der Leere auslieferst.
»Zeigt uns Eure Beweise«, sagte die Regentin stattdessen mit kalter Würde.
Rigiswald seufzte tief und lehnte sich mit verschränkten Armen und gesenktem Kopf zurück.
»Ich möchte den Mönch vom Drachenberg als Zeugen bemühen«, erklärte Dagnarus.
Die Regentin schien verblüfft zu sein, aber nach einem Augenblick des Unbehagens nahm sie sich zusammen. »Ich verstehe nicht …«
»Bitte, Regentin«, sagte Dagnarus leise. »Ihr habt um Beweise gebeten.«
Der Mönch, den alle vergessen hatten, stand auf und machte ein paar Schritte vorwärts, um sich zwischen seine riesigen, schweigenden Leibwächter zu stellen. Er verneigte sich ruckartig vor den Anwesenden, dann betrachtete er Dagnarus mit dem forschenden Blick eines Gelehrten.
»Ehrenwerter Herr«, sagte Dagnarus in einem Tonfall, der von unendlicher Hochachtung kündete, »ich bin mir – ebenso wie wir alle – dessen bewusst, dass die Mönche vom Drachenberg keine Geschichte machen, sondern beobachten.«
Der Mönch senkte zustimmend den haarlosen, von Tätowierungen überzogenen Kopf, um anzuzeigen, dass Dagnarus die Wahrheit sprach.
»Also bitte ich Euch nur darum, ehrenwerter Mönch, eine historische Tatsache zu bezeugen. Bin ich tatsächlich, was ich zu sein behaupte? Bin ich Dagnarus, zweiter Sohn von König Tamaros und seiner ihm gesetzlich angetrauten Gemahlin Emillia, Tochter von Olaf, König von Dunkarga, und geboren im Jahr 501?«
Der Mönch faltete die Hände und verbeugte sich abermals. »Ihr seid dieser Dagnarus«, erklärte er.
Er sprach ohne jedes Gefühl; seine Worte kamen präzise und knapp. Alle waren verblüfft über das, was er gesagt hatte. Sie waren schockiert und erstaunt, aber nicht einer der Anwesenden bezweifelte seine Worte.
»Dann ist hier die Leere am Werk!«, erklärte die Regentin mit erstickter Stimme. »Eine Dämonie der Leere.«
Zu spät, Clovis, sagte Rigiswald zu sich selbst, lehnte sich zurück und starrte zur Decke hoch. Du hast die Scheune offen gelassen, und jetzt galoppiert das Pferd vergnügt den Hügel hinunter.
»Dazu, Regentin«, erklärte der Mönch mit einem weiteren Nicken, »kann ich nichts sagen, denn über dieses Thema weiß ich nichts.«
»Allen ist bekannt, dass er der Lord der Leere war«, fuhr die Regentin fort und warf dem Mönch einen wütenden Blick zu, was diesen kein bisschen beunruhigte.
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