Der Stein der Wikinger
bis zur letzten Seite durchzublättern, wusste Hakon nicht. Er folgte einem unwiderstehlichen Drang, als würde Odin seine Hand führen und ein persönliches Interesse daran haben, dass er sich so eingehend mit dem Werk beschäftigte. Um ihn herum verblasste alles, die warmen Farben des Ackers, die Sonne zwischen den Wolken, selbst das Siegesgeheul hinter den Klostermauern. Wichtig war nur noch dieses seltsame Buch, dessen Kräfte einen so starken Zauber auf ihn ausübten, dass er kaum noch einen klaren Gedanken fassen konnte.
Er betrachtete die Bilder eingehend. Meist farbige Darstellungen des Gottes, zu dem die Christen beteten, ein blasser Mann mit schmächtigem Körper, den seine Feinde an ein Holzkreuz genagelt hatten. Dann seltsame Gestalten in farbigen Gewändern, die beinahe so aussahen wie die Araber, von denen einige Männer seiner Sippe erzählt hatten, die auf dem großen Markt in Haithabu gewesen waren. Doch auf einigen Seiten waren auch Landkarten zu sehen, wie sie Ivar manchmal in den Sand oder den Schnee malte. Linien und Zeichen, die bestimmte Länder und Städte darstellten. Ivar besaß eine solche Karte, ein Pergament mit ungelenken schwarzen Strichen, die ihm ein Händler in Haithabu als Zugabe gegeben hatte, und die ihre Heimat Eisland zeigte. Ähnliche Umrisse erkannte Hakon auf einer der Karten in dem kostbaren Buch, dazu eine rote Linie, die bis zum linken Rand des Buches führte.
Er blätterte ruhig weiter, als gäbe es nur noch dieses Buch auf der Welt. Der Mann vom Kreuz als lebender Prediger, ein farbiges Kreuz und viele schwarze Zeichen, bis auf die farbig ausgemalten alle gleich groß und säuberlich auf einer Linie stehend. Erst als er die vorletzte Seite aufschlug, erkannte er, warum er dieses Buch so gründlich studiert hatte.
Dabei war das Bild, das die ganze Seite bedeckte, nicht so bunt und auch nicht so eindrucksvoll wie die anderen. Aber die unwiderstehliche Kraft und der Zauber, die von ihm ausgingen, berührten Hakon stärker als alles, was er bisher erlebt hatte. Von einer seltsamen Wärme erfüllt blickte er auf das Gesicht einer jungen Frau, eines Mädchens noch, das ihn tief in seinem Inneren berührte. Obwohl es nur mit einfachen Strichen angedeutet und wenigen Farben ausgemalt war, glaubte er es körperlich vor sich zu sehen: die dunklen Augen, schwarz wie Torf und von der unergründlichen Tiefe eines Vulkansees im heimatlichen Eisland, die feinen Gesichtszüge und die hervorstehenden Wangenknochen, die leicht gebogene Nase und die anmutig geschwungenen Lippen. Er glaubte sogar ihr Lächeln zu sehen und ihre sanfte Stimme zu vernehmen.
»Odin, steh mir bei!«, flüsterte er ehrfürchtig. Niemals zuvor hatte er ein so eindrucksvolles Gesicht gesehen, das so starke Gefühle in ihm auslöste. Ein Bild nur und doch lebendig, ein wahres Kunstwerk. Hakon hatte einige Frauen in seinem Leben gekannt, Sklavinnen oder Mägde von niedrigem Stand, und bei keiner dieser Begegnungen hatte er so empfunden.
Er fühlte sich von dem zauberhaften Wesen gerufen, angelockt, und das sanfte Lächeln, das auf dem Pergament zu sehen war, schien sich zu verstärken und ihn zu umfangen. Eines Tages würde er die Frau kennenlernen, das wusste er in diesem Augenblick, eines Tages würde Odin dieses Bild zum Leben erwecken.
Er löste sich von dem Anblick und klappte das Buch zu, blickte prüfend an der Mauer empor, um festzustellen, ob ihn jemand beobachtet hatte. Ohne lange zu überlegen, verbarg er das Buch unter seinem Lederwams. Dieses Beutestück war nur für ihn bestimmt, kein anderer sollte das Bild zu Gesicht bekommen. Um sicherzugehen, dass es nicht unter seinem Wams hervorrutschte, schnallte er seinen Ledergürtel enger. Er war sich im Klaren darüber, wie gefährlich es war, ein wertvolles Beutestück vor dem Jarl zu verbergen, doch es kümmerte ihn nicht, denn seine Gedanken wurden noch von der jungen Frau beherrscht, die ein Unbekannter in dem Buch verewigt hatte.
Entschlossen kletterte er über die Mauer. Dabei achtete er darauf, das Buch nicht zu beschädigen. Er wischte sein blutiges Schwert im Gras sauber und kehrte zu den anderen Nordmännern im Klosterhof zurück. Sie hatten die Schätze zu den Schiffen gebracht und waren bereits dabei, das Kloster zu verlassen. Im schwarzen Rauch, der aus den Häusern und Hütten drang, folgte ihnen Hakon. Er stieg über tote Mönche hinweg, glaubte die verkohlte Leiche des Anführers zu erkennen und ließ das brennende Kloster hinter
Weitere Kostenlose Bücher