Der Stein der Wikinger
hatte. Ausgerechnet Ingolf, der Mann, der ihn am wenigsten leiden konnte. Wollte er, dass man ihn auspeitschte oder über Bord warf? Wollte er sich an seinen Qualen erfreuen?
»Ist das wahr?«, fragte Ivar scharf.
Eine Weile war nur das Knarren der Segel zu hören. Der Wind, der über den Wellen sang, das rauschende Meer. »Es ist wahr«, sagte Hakon scheinbar furchtlos, »ich habe ihn am Leben gelassen. Ich weiß auch nicht warum.«
Ivar packte ihn am Wams und zog ihn zu sich heran. In seinen funkelnden Augen erkannte Hakon, dass ihm eine schlimme Strafe bevorstand.
»Du hast ihn am Leben gelassen?«, schrie Ivar. »Du hast einen Pfaffen verschont? Du hast sein Buch genommen und kniest vor dem Gott dieses Christenvolkes?«
»Ich habe dir gesagt, warum ich das Buch wollte.«
»Du hast mich angelogen!«, schrie Ivar. »Du hast uns alle betrogen! Und ich brauche kein Thing und keinen König, um zu erfahren, welche Strafe du verdient hast! Lassen wir die Götter entscheiden, wie lange du noch auf dieser Welt verweilen darfst. Grüß mir die Fische, du verlogener Pfaffenanbeter!«
Mit diesen Worten packte er den entsetzten Hakon und warf ihn über Bord.
3
Hakon tauchte prustend aus dem Wasser, drehte verstört den Kopf und sah gerade noch, wie eine der Seekisten, auf denen sonst die Ruderer saßen, über Bord gestoßen wurde. Sie schaukelte verlockend auf den Wellen. Gunnar wollte ihm wohl helfen und ihm wenigstens eine kleine Chance lassen, in dem aufgewühlten Meer zu überleben.
Er schwamm mit kräftigen Zügen zu der Kiste und klammerte sich mit beiden Händen an einen der eisernen Griffe. Das Schiff entfernte sich rasch und verschwand im bleifarbenen Zwielicht, nur noch das blutrote Segel hob sich gegen den verwaschenen Horizont ab. Entsetzt beobachtete er, wie auch das Segel immer kleiner wurde und sich schließlich ganz in Luft auflöste.
Dennoch starrte er weiter nach Norden, in die Richtung, in der seine Heimat lag, Eisland mit seinen rauchenden Bergen, heißen Quellen und sattgrünen Weiden. Er würde die Insel wohl niemals wiedersehen, konnte von Glück sagen, wenn er mit dem nackten Leben davonkam.
Wie lange er durchhalten würde, wusste er nicht. Sein Glück war, dass er in einem der warmen Ströme trieb, die selbst so weit im Norden noch für erträgliche Wassertemperaturen sorgten. Doch wohin trieb ihn diese Strömung? Hinaus in die Weite des Meeres, ohne jegliche Hoffnung, jemals wieder Land zu sehen? An die rettende Küste eines fremden Landes? Zu einem Schiff, das ihn aufnahm?
Er blickte sich suchend um. Selbst für einen Nordmann wie ihn, der das Meer seine zweite Heimat nannte, war die endlose Weite erdrückend. Wohin er auch blickte, nur Wasser. Von einem Horizont zum anderen, in jeder Himmelsrichtung, bis zum Ende der Welt. Graue Wellen, die sich im Wind kräuselten und wie eine dunkle Decke über den Geheimnissen der Unterwelt lagen. Allein der Gedanke, unter sich ein düsteres Reich mit unheimlichen Wesen zu wissen, machte ihn nervös. Die Ungeheuer konnten jederzeit nach oben kommen, um ihn zu holen.
Er paddelte mit beiden Beinen, um nicht das Gefühl in den Muskeln zu verlieren. Salziges Wasser trieb ihm ins Gesicht, brannte in den Augen und im Mund. Nur mit großer Mühe schaffte er es, sich von seinem schweren Lederwams zu befreien. Mit einer Hand löste er den Gürtel. Die wollene Hose, die Unterwäsche und die Schuhe behielt er an. Den Lederhelm hatte er beim Sturz verloren. »Ungeheuer! Mörder!«, fluchte er laut in einem plötzlichen Wutanfall auf Ivar. »Musste es denn gleich die Höchststrafe sein? Dafür wird dich Thor mit seinem Hammer erschlagen!«
Mit seinem Onkel war er noch nie gut ausgekommen. Schon als Kind hatte Ivar ihn bei jeder Gelegenheit beschimpft und sogar geschlagen, wenn sein Vater und seine Mutter nicht in der Nähe gewesen waren. Bei der Ausbildung mit Kriegsaxt und Speer war Hakon von ihm verspottet und ausgelacht worden. Jeder Jüngling wurde hart rangenommen, um später im Kampf bestehen zu können, aber kein anderer fühlte sich so gedemütigt wie Hakon. Ivar mochte ihn nicht, hasste ihn vielleicht sogar, obwohl es keinen Grund dafür gab. War Ivar nicht der Bruder seines Vaters? Warum sollte er etwas gegen ihn haben?
Nur dem weisen Runenmeister, der große Stücke auf ihn hielt, hatte er es zu verdanken, dass Ivar ihn auf den Kriegszug mitgenommen hatte. Es gab keine andere Möglichkeit für Hakon, sich im Kampf zu beweisen. Nicht, solange er
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