Der Stein der Wikinger
hatten diese Bilder zu bedeuten? War er zum Opfer eines geheimnisvollen Zaubers geworden, der ihn in eine andere Welt zog? Gaukelte ihm Loki, der Vater aller Lügen, berauschende Trugbilder vor, um ihn in die dunklen Abgründe der Unterwelt von Hel zu locken? Hatte Freya, die Göttin der Fruchtbarkeit, seine Sinne verwirrt und ihn zum Sklaven einer jungen Frau gemacht, der er noch niemals begegnet war?
Die festen Schritte seines Onkels rissen ihn aus seinen Gedanken. Er öffnete die Augen und sah, wie der Schatten des gefürchteten Jarls über ihn fiel. »Was hast du unter deinem Wams?«, fragte der, die Hand am Schwert.
Die lauten Worte brachten jede Unterhaltung auf dem Schiff zum Erliegen. Nur das Rauschen des Windes und der Wellen, das Knarren des Segels und das Ächzen der Planken waren noch zu hören.
Hakon griff sich erschrocken an die Brust. Das Buch unter seinem Wams hatte sich verschoben und drückte das Leder nach außen. Er rückte es rasch zurecht, tat so, als hätte sich nur seine Kleidung aufgebauscht. »Nichts, Onkel«, erwiderte er, während ihm das Blut ins Gesicht schoss, »das ist nur der Wind.« Doch sein schuldbewusster Blick sagte etwas anderes.
»Du lügst!«, fuhr Ivar ihn mit funkelnden Augen an. Er riss ihn von der Seekiste hoch und zog das Buch unter seinem Wams hervor. »Und was ist das?« Er hielt die wertvolle Beute wie eine Trophäe empor. »Dein Proviant?«
Hakon versuchte dem spöttischen Bick des Jarls mit Stärke zu begegnen. »Ich brauche das Buch«, erwiderte er fest. »Ich habe es einem Mönch abgenommen. Es ist wichtig für mich. Die Götter haben es mir geschenkt, um mir die Richtung zu zeigen, in die ich gehen muss. Ich wollte es nicht verkaufen.«
»So, du wolltest es nicht verkaufen.« Der beißende Sarkasmus des Anführers zwang Hakon beinahe in die Knie. »Weißt du überhaupt, was du da sagst?« Er blätterte in dem Buch, warf einen raschen Blick hinein, und schlug es angewidert wieder zu. »Das hier ist ein Pfaffenbuch! Da stehen die albernen Gebete und Lieder drin, die sie von sich geben! Oder hast du dir die Bilder nicht angesehen?« Er schlug das Buch erneut auf und hielt seinem Neffen ein Bild des gekreuzigten Christus hin. »Siehst du diese jämmerliche Gestalt? Das ist ihr Gott, ein schwacher Gott, fürwahr! Er ließ sich an ein Holzkreuz nageln und wie ein Sklave hinrichten, anstatt zur Waffe zu greifen und sich zu wehren. Und dieses Buch sollen dir die Götter geschenkt haben? Willst du dich über mich lustig machen?« Er warf das Buch einem anderen Mann zu und forderte ihn auf, es zu der übrigen Beute in einen der Säcke zu stecken. »Du wolltest das Buch verkaufen! Du wusstest, dass manche dieser Christen viel Silber für das Buch bezahlen würden. Du hast mich und alle deine Verwandten betrogen!«
Hakon wagte nicht, die anderen Männer anzublicken. Er wusste selbst, wie unglaubhaft seine Worte geklungen haben mussten. »Das stimmt nicht«, erwiderte er dennoch. »Du musst mir glauben, Onkel! Ich brauche das Buch!«
»Ein Christenbuch?«, fauchte Ivar. Er war außer sich vor Wut.
Hakon blieb standhaft. »Es war nicht meine Absicht, euch zu betrügen. Und es ist wahr: Ich wollte das Buch nicht verkaufen. Ich lüge nicht. Habe ich nicht tapfer gekämpft und dem Namen unserer Sippe Ehre gemacht?«
»Du bist geflohen«, sagte ein junger Mann zwei Reihen vor ihm. Er hieß Ingolf und war wie alle Männer der Sippe mit ihm verwandt, wenn auch nur sehr entfernt. Anscheinend war er mit Gunnar in der Kirche gewesen. Hakon erinnerte sich daran, ihm im letzten Sommer ein Mädchen ausgespannt zu haben.
Er blickte Ingolf überrascht an. Bisher war er der Meinung gewesen, dass man ein Mitglied der eigenen Sippe nicht verriet, selbst wenn man den Mann oder die Frau nicht leiden konnte. »Warum sagst du so etwas?«, fragte Hakon.
»Als wir aus der Kirche gingen, bist du verschwunden«, ließ Ingolf sich nicht beirren. »Ich bin dir gefolgt und habe gesehen, wie du über die Klostermauer geklettert bist. Nur Feiglinge laufen vor einem Kampf davon.«
Hakon beherrschte sich. »Es ist wahr, ich bin über die Mauer geklettert«, sagte er zu seinem Onkel. »Aber nur, um den Mönch zu fangen, der mit dem Buch fliehen wollte. Ich habe ihn getötet und ihm das Buch abgenommen.«
»Du hast ihn nicht getötet«, sagte Ingolf, »du hast ihn verschont.«
Ingolfs Worte trafen ihn wie Peitschenhiebe. Also hatte doch jemand beobachtet, wie er dem Mönch das Buch weggenommen
Weitere Kostenlose Bücher