Der Stein der Wikinger
reiten. Oder hast du vergessen, dass wir morgen Mittsommernacht feiern? Das halbe Land hat schon am Lögberg seine Zelte aufgeschlagen, und selbst Ivar und die Männer unserer Sippe werden morgen zum schwarzen Rechtsfelsen ziehen.«
»Dann hätte ich kaum jemand zu fürchten, wenn ich dich töte und zur Küste reite«, erwiderte Hakon. Auch er lächelte, obwohl ihm nicht danach zumute war. »Warum sollte ich mit dir zum Rechtsfelsen reiten?«
Gunnar schien sich seiner Sache sicher zu sein, hatte seine Hände arglos auf dem Sattelknauf liegen, als rechnete er nicht mehr damit, dass Hakon zum Schwert griff. »Weil du kein Dummkopf bist. Beim Allthing stehst du unter dem Schutz des Rechtssprechers. Wer dort sein Schwert zieht und einen anderen Mann angreift oder hinterrücks ermordet, wird mit dem Tod bestraft. Nicht mal Ivar würde solch ein Risiko eingehen. Dort bist du sicher.«
»Man wird mich anklagen und Recht über mich sprechen.«
»Kann dir etwas Besseres passieren? Du hast Bekan nicht hinterrücks ermordet. Du hast ihn im Zweikampf besiegt, nicht wahr? Darauf steht die Verbannung. Man wird dich zwingen, an Bord eines Schiffes zu gehen und Erik nach Grünland zu folgen. Du wirst etwas tun müssen, das du sowieso wolltest.«
Hakon dachte lange über die Worte nach. Gunnar hatte recht, im Schatten des Rechtsfelsens war er vor Ivar dem Einarmigen und seinen Kämpfern sicher. Selbst sie würden nicht wagen, ihn während des Allthings zu töten. Thorgeir, der oberste Rechtssprecher des Landes, würde über seinen Fall zu Gericht sitzen, und Ivar war nur einer von neununddreißig Goden, die über sein Urteil abstimmen würden. Er entspannte sich ein wenig. »Du bist ein kluger Mann, Gunnar. Nur Loki hätte sich eine so raffinierte List ausdenken können. Ich werde tun, was du sagst, mein Freund.«
Er zog sein Schwert aus der Schlinge und zögerte einen Augenblick, bevor er es Gunnar reichte. »Du weißt, dass Thor dich in den kalten Abgrund von Hel stoßen wird, falls du mich betrügst?«, fragte er, um ganz sicherzugehen.
»Habe ich dich jemals betrogen?«
»Nein«, antwortete Hakon, »und deshalb traue ich dir.«
Immer noch widerwillig, weil er sich ohne sein Schwert verwundbar fühlte und sogar an Gunnars Seite ein großes Risiko einging, folgte er ihm in die nahen Berge. Sie benutzten abgelegene Pfade, um nicht anderen Nordmännern zu begegnen, die ebenfalls zum Rechtsfelsen ritten, und versteckten sich hinter einem Hügelkamm, als ganz in ihrer Nähe ein Jäger aus den Bergen zurückkehrte. Die Sonne war hinter einigen Wolken verschwunden und Dunstfetzen hingen über den schwarzen Felsen.
Sie sprachen wenig, doch Hakon hatte das Gefühl, dass Gunnar ihm etwas Wichtiges mitteilen wollte.
»Willst du mir etwas sagen?«, fragte er nach einer Weile neugierig.
Gunnar blickte ihn abwesend an und ritt eine Weile schweigend weiter, bevor er sein Pferd zügelte und antwortete: »Ich habe die ganze Zeit überlegt, wie ich es dir sagen soll. Deine Eltern sind tot. Ivar der Einarmige und fünf seiner Männer haben deinen Vater und deine Mutter erschlagen. Sie wurden nie dafür zur Verantwortung gezogen. Doch es gibt keinen Grund zu klagen, mein Freund. Dein Vater ist mit dem Schwert in der Hand gestorben und mit den Walküren nach Walhall unterwegs, und deine Mutter … man sagt, dass sie wie eine tapfere Frau gegangen ist.«
Hakon hielt ebenfalls an und starrte lange in den aufkommenden Nebel. Der kühle Wind, der von den Bergen herab wehte, schien bis in sein Herz zu dringen und es mit einer eisigen Schicht zu überziehen. Sein Wallach drehte schnaubend den Kopf, verwundert darüber, dass sie eine Pause einlegten.
»Es tut mir leid, Hakon.«
»Du kannst nichts dafür. Wer hat sie begraben?«
»Ivars Männer haben sie verbrannt«, erwiderte er, »so wurde es mir berichtet.« Er beruhigte sein unruhiges Pferd mit einem Schenkeldruck. »Nicht alle waren mit ihrem Vorgehen einverstanden, Hakon. Die Leute sagen, dass dein Vater keine Chance gegen die sechs Männer hatte. Aber niemand wagt sich gegen den Jarl aufzulehnen.«
»Das verstehe ich, Gunnar. Lass uns weiterreiten.«
Sie ritten schweigend durch die zerklüftete Landschaft. Hakon war in Gedanken versunken, gedachte seiner Eltern, die auf so unwürdige Weise gestorben waren. Freie Bauern, die sich in ihr abgelegenes Haus zurückgezogen und von der Schafzucht gelebt hatten, nachdem seine Mutter krank geworden war und lange das Bett hüten musste. Man
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