Der Stein der Wikinger
Alles Lüge!«, schrie Ivar.
»Schweigt!«, rief Thorgeir, der weißhaarige Rechtssprecher. Er trug ein kostbares Gewand aus purpurfarbenem Samt, das vor der Brust von einer bronzenen Fibel zusammengehalten wurde. »Odin mag es nicht, wenn seine Krieger aufeinander losgehen. Wartet, bis ich das Thing eröffnet habe und wir über diesen Fall verhandeln können. Gunnar, binde den Gefangenen an Armen und Beinen und sperre ihn in eine der freien Hütten. Morgen früh, wenn die Sonne aufgeht, will ich mich mit seinem Fall befassen. Und du, Ivar, zähme deinen Zorn, denn es gibt Wichtigeres zu tun.«
»Thorgeir kennt deinen Namen?«, wunderte sich Hakon, als er Gunnar zu den abgelegenen Hütten vor der hoch aufragenden dunklen Felswand folgte. »Was hat ein Krieger wie du mit dem Rechtssprecher des Allthings zu tun?«
Gunnar antwortete nur widerwillig. »Ich habe ihm einmal das Leben gerettet, in einem heftigen Sturm auf den Klippen der Südküste. Ohne mich wäre er in die Tiefe gestürzt. Ich rede nicht gern darüber, aber er vergisst es nicht.«
»Dann ist er dir noch etwas schuldig, und du glaubst …«
»Ich glaube gar nichts«, erwiderte Gunnar. Er stieß ihn in eine der Hütten, drückte ihn auf die schmutzige Wolldecke, die notdürftig über den sandigen Boden gebreitet war, und fesselte ihm Arme und Beine. »Ich werde einen Krieger beauftragen, dich zu bewachen. Heute Abend bringt dir ein Sklave zu essen und zu trinken. Versuche nicht zu fliehen, das wäre dein sicherer Tod.«
Hakon fügte sich in sein Schicksal. Nur die Hoffnung, vom Allthing verbannt zu werden und auf diese Weise nach Grünland zu kommen, ließ ihn die Schmach ertragen. Hätte er wie ein Krieger gedacht, wäre er wie ein Berserkir auf Ivar den Einarmigen losgegangen, auch wenn ein solches Vorgehen seinen sicheren Tod bedeutet hätte. Wie gerne hätte er den Jarl für seine Bosheiten bestraft und ihm das kostbare Buch wieder abgenommen! Doch sein Verstand riet ihm, sich still zu verhalten und auf ein gerechtes Urteil zu hoffen. Nur so lebte seine Hoffnung weiter, die Frau zu finden.
Er lehnte sich mit dem Rücken gegen die Wand aus kaum behauenen Felsbrocken und blickte durch die offene Tür ins Freie. Einige Männer auf wendigen Pferden trieben eine kleine Rinderherde vorbei. Der Staub, den die Tiere mit ihren Hufen aufwirbelten, vermischte sich mit dem nebligen Dunst, der bis in die Täler gesunken war. Aus einiger Entfernung drangen die Rufe der Händler herüber.
Aus dem Nebel schälte sich die Gestalt eines jungen Kriegers. Das Schwert an seiner Hüfte glänzte so makellos im bleichen Licht, als wäre es noch nie benutzt worden. Er warf einen kurzen Blick in die Hütte, nickte zufrieden und baute sich breitbeinig und mit verschränkten Armen vor dem Eingang auf. Wahrscheinlich sein erster ernsthafter Auftrag, das sah man schon an seiner Haltung und dem Stolz, der in seinen blauen Augen glomm.
Hakon war froh, dass ihn der Krieger in Ruhe ließ, und nützte die Zeit, um sich auszuruhen. Er war zwar nur drei oder vier Winter älter als der junge Mann, der ihn bewachte, hatte aber schon gelernt, seine Kräfte einzuteilen und sich selbst im Augenblick größter Gefahr auf die nächste Herausforderung vorzubereiten. Ein erfahrener Krieger schlief auch bei rauer See, wenn er wusste, dass am nächsten Morgen eine entscheidende Schlacht bevorstand. Wer nicht ausreichend ruhte und wertvolle Energie vergeudete, war im Nachteil, wenn er wieder gefordert wurde.
Doch die Ruhe währte nicht lange. Die weiße Sonne hinter den Wolken war kaum gewandert, als ihn laute Stimmen weckten. Er schreckte hoch und blickte nach draußen, sah zwei Männer auf dem schwarzen Rechtsfelsen stehen und zu den Eisländern sprechen, die sich in der Schlucht unterhalb des Felsens und den umliegenden Tälern versammelt hatten. Von dem legendären Felsen war die Stimme eines Mannes weithin zu hören, auch deshalb hatten die Begründer des Allthings diesen Platz ausgewählt.
»Hört mich an, Eisländer!«, rief einer der beiden Männer. »Ich bin Gizur, wie die meisten von euch wissen, und das ist Hjalti, einer der tapfersten Nordmänner, die ich kenne.« Er deutete auf seinen Begleiter. »Wir haben die alte Heimat hinter uns gelassen und sind gekommen, um euch eine frohe Botschaft zu bringen. Jesus Christus heißt der Gott, zu dem viele unserer Nachbarn aufschauen und der auch uns von Nutzen sein könnte.«
Als sich Widerstand unter den Zuhörern regte, hob er
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